Die OEEC war seit 1948 das europäische Kind des
Marshallplans und die OECD seit 1961 sein nordatlantischer Enkel. Das OECD
Development Centre wurde die südorientierte Spätgeburt. 1962 auf Anregung des
damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy[1]
gegründet, sollte die halbautonome forschungsorientierte Einrichtung dem
Erfahrungsaustausch und als Bindeglied zwischen den OECD-Mitgliedern und den
Entwicklungsländern dienen. Trotz Angeboten durch IfW (DC), Moody´s (NYC), KfW
(Ffm) und GIGA (HH) blieb ich fast 29 Jahre dem Development Centre in Paris
verbunden[2].
Die OECD und das OECD Development Centre hatten im Dezember 1983, als ich dort begann, wohl
die beste Zeit hinter sich. Der letzte bei den Volkswirten hochgeschätzte
Generalsekretär war Emile van Lennep.
Er war Jurist, der seinem Economics Department
(alle anderen Abteilungen durften sich nur Directorate
nennen) gerne zuhörte. Sein keynesianisch geprägter Chefvolkswirt Stephen Marris war jemand, der sich
von den damals populären Strömungen der Ökonomie (Rationale Erwartungen;
Angebotstheorie) nicht anstecken ließ. Ein typisches Agenturproblem, das man
bei den multilateralen Organisationen oft antraf: Der Agent scherte sich nur
scheinbar um die Präferenzen seiner Mitglieder, dem Prinzipal[3].
Das konnte in Zeiten von Reagan und Thatcher nicht lange gut gehen.
Das OECD Development Centre hatte bis dato seine beste Zeit infolge des britischen Vizedirektors Prof. Ian M.D. Little[4] (†2012) erlebt, der in seiner kurzen Amtszeit (1966-68) liberale britische und indische Spitzenökonomen um sich scharte (z.B. Jagdish Bhagwati, Deepak Lal, James Mirless, Tibor Scitovsky, Maurice Scott). Zwei Studien – Manual of Industrial Project Analysis II, Social Cost Benefit Analysis (1969) und Industry and Trade in some Developing Countries (1970) – waren nachhaltig einflussreich, wenn auch umstritten, in der entwicklungsökonomischen Literatur[5]. Als ich im Dezember 1983 beim OECD Development Centre anheuerte, waren akademische Ausrichtung, Liberalismus und Exzellenz längst verflogen, die wichtigen Protagonisten in Richtung Nuffield College (Oxford U) und Weltbank gewandert.
Das Centre war also in den 1960ern marktliberal während der
keynesianischen Ausrichtung der OECD; danach drehte die OECD allmählich und
spät in Richtung Angebotspolitik. Das Centre kam zunehmend unter den Einfluss
kleiner europäischer OECD-Länder (Tabelle 1) und geriet zunehmend in innere
Opposition zur OECD, die stark von den USA und Großbritannien geprägt war.
Tabelle 1: Eine
Chefin und sechs Chefs des OECD Development Centre, 1983-2012
Zeitraum |
Development
Centre |
OECD-Generalsekretäre |
Zeitraum |
1983-85 |
Justus Faaland (†2017), N |
Emile v Lennep (†1996), NL |
1969-84 |
1985-92 |
Louis Emmerij (†2019), NL |
Jean-Claude Paye, F |
1984-94 |
1993-99 |
Jean Bonvin (†2017), CH |
Don Johnston, CAN |
1996-06 |
1999-03 |
Jorge Braga de Macedo, P |
|
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2003-07 |
Louka Katseli, Gr |
José Ángel Gurría, Mex |
2006- |
2007-10 |
Javier Santiso, Esp |
|
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2010- |
Mario Pezzini, I |
|
|
Der Norweger Just
Faaland, ein ehemaliger KZ-Häftling (Buchenwald 1943-45) wurde mein erster
OECD-Chef; widerwillig, weil ich sehr wenig akademisch publiziert hatte bis
dahin und ihm als Deutscher wohl auch suspekt war[6].
Ein Student des Nobelpreisträgers Ragnar Frisch, wurde Faaland 1949 bei der
OEEC in Paris angestellt, wo unter anderem auch Angus Maddison und der spätere
Nobelpreisträger Tom Schelling arbeiteten. Im Jahr 1952 wurde er zum Mitglied
des Chr. Michelsen-Instituts (Bergen) berufen, wo er 28 Jahre als Direktor
fungierte. Prof. Faaland hatte, bis er Präsident des OECD Development Centre
wurde, etliche Länder und internationale Organisationen beraten. Für seine
Beratung hinsichtlich Malaysias multiethnischer Bumiputra-Politik erhielt Tan
Sri Just Faaland im Jahr 2010 den Merdeka Award.
Recht bald lernte ich durch Faalands Vermittlung den schottischen
Bestsellerautor[7] des
Development Centre – den „chiffrephilen“ Wirtschaftshistoriker Angus Maddison -
kennen, der früher wie Faaland mit der OEEC gearbeitet hatte. Angus pendelte seitdem
von seinem „electronic cottage“ in Nordfrankreich aus zwischen seinem Lehrstuhl
an der Uni Groningen und der OECD in Paris, wenn er sich nicht gerade in der
großen weiten Welt Daten besorgte. Als wir uns beim Mittagessen kennenlernten,
stießen Faaland und Maddison mit Champagner auf den kommenden Sturz Maggie Thatchers an;
ich trank dabei patzig ein Glas Milch.
Faalands Präsidentschaft beim OECD Development Centre taucht
in keiner der Nachrufe noch in seiner Wiki-Seite auf. Sie war ein großes
Misverständnis und schnell beendet. Der scheue, schweigsame und distanzierte
Norweger verachtete die OECD und seine Botschafter, die sich gerne reden hörten
aber wenig von Entwicklung verstanden. Das trug ihm zwar beim Stab viel
Sympathien ein; für sein politisches Überleben bei der OECD war diese Haltung
tödlich[8].
Ich selbst war für drei Jahre entsendet und sollte zum Thema
„Lateinamerikas Schuldenkrise und internationaler Handel“ publizieren –
konkreter wurde auch auf Nachfrage der Auftrag nicht. Fein... Nach einer ersten
noch neoklassisch geprägten Fingerübung (im Stil des Exil-Ungarn
Bela Balassa) entdeckte ich die augenfälligen Parallelen zwischen dem
hyperinflationären Lateinamerika der 1980er mit dem Deutschland der 1920er. Der
Gedanke, den noch fehlenden Doktortitel vor meiner vermeintlichen Rückkehr ins
BMWi nachzuholen, reifte schnell. Da Köln rasch per Zug zu erreichen war und meine Schwester dort nahe der Uni wohnte, kontaktierte ich den Ex-Kieler Prof. Gerhard Fels beim IW, der mich an Prof.
Hans Willgerodt und Ralph Anderegg ´weiterreichte´.
Ich stürzte mich förmlich auf die Nachkriegsliteratur zum
deutschen Reparationsproblem. Dass das deutsche Transferproblem weitaus mehr
Facetten hatte als nur das durch die Keynes/Ohlin-Debatte populär gewordene
Übertragungsproblem (in Form verschlechterter terms of trade), das erfuhr ich insbesonders in den Schriften von
Fritz Machlup. Wie vierzig Jahre früher die deutschen, scheiterten die Schuldentransfers
etlicher Schwellenländer nicht am Dollarproblem, sondern am internen Aufbringungsproblem[9].
Da bislang besonders in Washington, DC, Lateinamerikas
Schuldenproblem vornehmlich als Dollarproblem interpretiert wurde, schlug die
OECD-Fassung hohe Wellen, befeuert durch William R. Cline (PIIE), Jeffrey D
Sachs (Columbia U) und Vito Tanzi (IMF). Letzterer hatte als Fiskaldirektor des
Währungsfonds auch ein bürokratisches Interesse an meiner Arbeit: es geriet zu
meinem ganz persönlichen Tanzi-Effekt.
Er lud mich zum IMF-Vortrag nach Washington ein und zum Istanbul-Kongress 1988
des International Institute of Public Finance. Es folgte 1989 eine Einladung
der Weltbank, unmittelbar vor der Präsentation des Brady-Plans durch das US Treasury,
in der ich der Frage nachging, wie die Industrieländer nach dem zweiten
Weltkrieg ihre hohen öffentlichen Schuldenquoten ohne Krise durchhalten
konnten. Der Aufsatz hat mehr als dreissig Jahre später durch die Covid-Krise
wieder Aktualität gewonnen[10].
Just Faalands niederländischer Nachfolger Louis Emmerij (auch „Big Louis“) kam
aus Den Haag, wo er vorher neun Jahre als Rektor des Institute of Social Studies fungiert hatte, ohne dass sich seine
Ambition errfüllte, niederländischer Entwicklungsminister (wie sein
PvdA-Parteifreund Jan Pronk) zu werden. Vorher hatte Big Louis sich Verdienste
erworben bei der ILO, wo er 1971-76 das World Employment Program geleitet
hatte. Unter Big Louis´ Führung war das Konzept der Grundbedürfnisse (basic needs) entwickelt worden, ein
Vorreiter des später vom die Entwicklungsdebatte prägenden UNDP-Chef Mahbub Ul
Haq entwickelten Human Development Index.
Emmerij brachte einige interessante Ökonomen ins Centre (Eliana Cardoso mit Rudi Dornbusch; Jacques Polak; Keith B. Griffin). Rudi setzte sich bei Peter Kenen dafür ein, meine Dissertation in konzentrierter Form als Princeton Study in International Finance global zu verbreiten [11]. Für Jacques Polak wurde ich der hausinterne Sparringspartner von zwei OECD-Publikationen[12].
Emmerijs Vater war 1945 im KZ Dachau ums Leben gekommen[13].
Mein Schuldenthema „your pet subject“ interessierte ihn auch nicht sonderlich.
Dennoch bewunderte ich Big Louis für seine wache Intelligenz und pünktlich
befristeten Arbeitszeiten. Seine feudalen Vorlieben sah ich dem Kaviar-Sozialisten
nach; mittags ließ er sich mit dem Dienstwagen vom eigenen Chauffeur in
den teuren Country-Club im Bois de Boulogne fahren, wo er bei gutem Wetter
gerne Hof hielt.
Louis Emmerij scheint als Centre-Präsident keine
nachhaltigen Spuren hinterlassen zu haben. Weder führt ihn die iLibrary der
OECD auf noch das OECD Development Centre, was darauf hindeutet, dass er keine
nachhaltigen Konferenzbände hinterlassen hat. Der Austritt wichtiger Mitgliedsländer
aus dem OECD Development Centre, allen voran die USA und im Gefolge Japan, rühren
aus seiner Zeit als Präsident.
Allerdings fällte Big Louis gute Personalentscheidungen. Er holte David Turnham zurück, den schon Ian Little als Forschungsassistent mitgebracht hatte und in der Zwischenzeit bei der Weltbank reussierte. David war einer der Ersten, die sich dem Problem der Unterbeschäftigung in den armen Ländern gewidmet hatte. Der später vielfache Großvater zeigte auch schon in den späten 1980ern mit unserem Babygirl Talent als lebendes Reitpferd. Außerdem heuerten die Professoren Christian Morisson, Jean-Claude Berthelemy und Aristomène Varoudakis an. Mit ihnen ging es langsam mit dem Centre wieder aufwärts, zumal sie auch den sympathischen Prof. François Bourgignon (später Chefökonom der Weltbank und dann Gründungsrektor PSE) einbanden.
[1] Die
Gründung des OECD-Entwicklungszentrums wurde von US-Präsident John F. Kennedy
in einer Rede vor dem kanadischen Parlament in Ottawa am 17. Mai 1961
vorgeschlagen: https://youtu.be/tVO4HifEqEk
[2] In
Deutschland (1976-1983) hatte ich während einer recht kurzen Berufszeit als
Volkswirt vier Arbeitgeber. Vgl. https://reibreisen.blogspot.com/2020/06/meine-deutschen-chefs-1976-1983.html.
[3] Bei
multilateralen Organisationen erschwerte die doppelte Delegation
(Wähler->Regierung->Multi) das Prinzipal-Agenten-Dilemma. Vgl. dazu z.B. Nielson, Parks & Tierney (2017),
„International organizations and development finance: introduction to the
special issue”, The Review of International
Organizations , Vol. 12, S. 157–169.
[4] Vgl. zur
Würdigung des Ökonomen IMD Little: C. Bliss
and V. Joshi (2014). "Ian Malcolm David Little 1918–2012" (PDF). Biographical Memoirs
of Fellows of the British Academy. XIII: 317–318.
[5] In
seinen Erinnerungen nimmt Prof. Little wie gewohnt kein Blatt vor den Mund. Daher lesenswwert: Little (2002), „The Centre since the 1960s“, in Jorge Braga de
Macedo, Colm Foy and Charles P. Oman (eds.), Development is Back, Paris: OECD
Development Centre, 257-262.
[6] Die
deutsche Vertretung bei der OECD hatte vergeblich auf einen hohen Posten am
Centre spekuliert. Erst als sich diese Personalie zerschlug, machte sie Druck
für meine Kandidatur.
[7] Unter seinen vielen OECD-Bestsellern
ist das meistzitierte Angus Maddison (2006), The World Economy, Vol.1: A
Millenial Perspective; Vol. 2: Historical Statistics, Paris: OECD Development
Centre.
[8] Da die
OECD ihr institutionelles Gedächtnis wenig pflegt, führt sie auch keine
Würdigung seiner früheren Centre- Präsidenten. Vgl. das Chr. Michelsen Institute (2017), In memory of Just Faaland , Bergen (Norwegen).
[9] Helmut
Reisen (1987), Über das Transferproblem
hochverschuldeter Entwicklungsländer, Nomos Verlagsgesellschaft,
Baden-Baden. Vgl. OECD-Version
Helmut Reisen & Axel van Trotsenburg (1988), Developing
Country Debt: The Budgetary and Transfer Problem, Paris: OECD
Development Centre. Mit Axel
van Trotsenburg, der bei der Weltbank eine große Karriere machte,
veröffentlichte ich im selben Jahr einen ersten Aufsatz zum optimalen
Währungsregime in Ostasien; vgl. Helmut Reisen & Axel van Trotsenburg
(1988), „Should
the Asian NICs Peg to the Yen?“, Intereconomics, vol. 23(4),
pages 172-177, July.
[10] Helmut Reisen (1989), “Public Debt, North and
South”, Policy Research Working Paper Series 253, The World Bank.
[11] Daraus wurde Helmut Reisen (1989), "Public Debt, External
Competitiveness, And Fiscal Discipline In Developing Countries," Princeton Studies in International Economics
66, International Economics Section, Departement of Economics Princeton
University.
[12] Jacques J. Polak (1989), Financial Policies and Development,
Paris: OECD Development Centre; J.J.
Polak (1991), “The
Changing Nature of IMF Conditionality”, OECD Working Paper No. 41.
[13] Richard Jolly (2020), „Louis
Emmerij obituary“, The Guardian,
27 January. Als Deutscher wurde ich aus verständlichen Gründen von
Big Louis recht kühl behandelt, wie vorher von Just Faaland.