Sunday 17 January 2021

Frankreich: Verwaltungselite und Provinz bestimmen das Tempo

 

Frankreich: Verwaltungselite und Provinz bestimmen das Reformtempo

Dieser Beitrag folgt meiner Zusammenfassung des in Frankreich vielbeachteten Aufsatzes[1] des jungen MIT-Ökonomen Antoine Lévy in Le Figaro vom 2. Januar 2021. Darin hatte Lévy den Spätstart der Covid-Impfung in Frankreich beklagt. Die Geringschätzung der Logistik, Verantwortungsflucht, Staats- und Administrationsversagen sowie Realitätsverlust der Regierung nannte Lévy als wesentliche Merkmale des französischen Rückstands.

Eine Woche später erschien in Le Monde ein Artikel (der inzwischen umfirmiert wurde), welcher den Akzent legt auf

·       Frankreichs hypertrophe Bürokratie im Gesundheitswesen[2]. Dort hat Frankreich 93.000 Verwaltungseinheiten (bei Staat, Sozialversicherung, und Kommunen), die öffentliche Gelder ausgeben können; in Deutschland sind es 15.000.

·       Zentralismus mit einer vertikalen, silobasierten Organisation der Ministerien. Der Gesundheitsminister gibt seine Anweisungen an die Programmverwalter, die wiederum das Geld an die Verantwortlichen in den Gebieten delegieren.

·       Arroganz: Vor Ort beschweren sich Bürgermeister und lokale Behörden über die Arroganz hoher Beamter, von denen sie selbst in einer Notsituation, in der Einigkeit herrschen sollte, missachtet werden.

·       Hyperkontrolle: Das Misstrauen der Zentralregierung und die Detailversessenheit seien paradoxerweise durch die verschiedenen Dezentralisierungsgesetze noch verstärkt worden. Der Staat, der nicht mehr Akteur, sondern Auftraggeber ist, hat dann seinen Machtverlust durch Hyper-Kontrolle kompensiert.

·       Verwaltungsreform 2022: Was hat das Comité action publique 2022 gebracht? "Nichts", sagt der Ökonom Jean Pisani-Ferry knapp. "Es war eine Art mexikanische Armee[3]", bestätigt Philippe Aghion, Professor am Collège de France, der auch Mitglied der Reformkommission war. „Wir setzten Bürokratie ein, um uns mit den Bürokraten zu beschäftigen“.

Bedrückend und beeindruckend, wie wenig Frankreich sich im letzten Jahrhundert in dieser Hinsicht verändert zu haben scheint. Nehmen wir als Kronzeugen, in chronologischer Reihenfolge, Schriften[4] von Marc Bloch und Herbert Lüthy.

Mit ihren bahnbrechenden Arbeiten haben die Historiker um die Zeitschrift Annales die Geschichtswissenschaft revolutioniert. Statt Schlachten und Ereignissen aufzulisten, wollen die Annales-Historiker das menschliche Handeln in seiner ganzen Breite zeigen und dafür die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Geographie, der Soziologie oder der Wirtschaftswissenschaft suchen. Der Medievist und Agrarhistoriker Marc Bloch war (neben Lucien Febvre) Mitgründer der „Annales“-Geschichtsschreibung; ein anderer berühmter Vertreter war Fernand Braudel. Marc Bloch entstammte einer ursprünglich im Elsass ansässigen jüdischen Familie, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 das Elsass verlassen hatte.

In L'Étrange Défaite (1946)[5] untersucht Marc Bloch 1940 als Soldat aus der Froschperspektive[6] die Gründe für die französische Niederlage in der Schlacht um Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, der Drôle de Guerre. Blochs Essay der Zeitgeschichte ist ein Zeugnis für die Unzulänglichkeiten der Eliten, die im Mai 1940 in den Krieg eintraten.

Zunächst prangerte er den bürokratischen Charakter der Armee an, den er auf die in Friedenszeiten angenommenen Gewohnheiten zurückführte: insbesondere den Kult des schönen Papiers, aber auch die "Angst, einem mächtigen Mann von heute oder morgen zu missfallen". Diese bürokratische Organisation ist nach Marc Bloch auch in der Ausbildung der Offiziere selbst begründet, die sich um einen Theorie- und Traditionskult dreht. Die Offiziersausbildung basierte auf eleganten und abstrakten theoretischen Einsatzregeln, die sich in der Praxis nicht bewährten.

Zudem verlangsamte ein Geheimhaltungs- und Befehlskult die Weitergabe von Informationen. Die Kombination aus Bürokratie und starrer Ausbildung führt zu allgemeiner Unordnung im Feld, da die Führungskräfte zu schnell wechseln. Die Aufklärung über Feindstellungen wird durch kärgliche Information der operativen Ebene verhindert, da die relevanten Informationen als geheim eingestuft und zu weit oben in der Hierarchie kommuniziert werden. Alle Informationen durchlaufen sehr lange hierarchische Kanäle, und am Ende sind sie veraltet, wenn sie die Leute erreichen, die sie nutzen sollten.

=> Verwässerung der Verantwortung zwischen zu vielen Hierarchieebenen und eine Verzögerung bei der Übermittlung von Anweisungen. Dadurch wird es unmöglich einzuschätzen, innerhalb welcher Zeitspanne ein Befehl ausgeführt werden kann, was zu kontraproduktiven Manövern führt, wie z.B. der Rückzug der Armeen an der Maas und bei Sedan vor dem deutschen Durchbruch in den belgischen Ardennen. Auch waren die höheren Offiziere immer wieder überrascht, dass "die Deutschen sich einfach schneller bewegt hatten, als es die Regel zu sein schien", wobei die Regel auf dem Studium der napoleonischen Feldzüge und des Ersten Weltkriegs beruhte: das starre und rückwärtsgewandte strategische Denken der französischen Führung, so Bloch.

Flucht aus der Verantwortung: Marc Blochs Anklage gegen den französischen Generalstab, der jede Verantwortung für die Niederlage der französischen Armee im Jahr 1940 von sich weist, wiegt besonders schwer, da in seinen Augen die Generäle unfähig waren, sich den neuen Realitäten des mobilisierten Bewegungskriegs mit Panzern und Luftwaffe anzupassen.

Ein Buch des Basler Historikers Herbert Lüthy[7] erregte kurz nach Blochs Veröffentlichung sowohl in Frankreich[8] als auch in Deutschland und der Schweiz Aufmerksamkeit. Frankreichs Uhren gehen anders, nicht unbedingt falsch! Daraus spricht, wie Friedrich Sieburg[9] anmerkte, „Einsicht in die unerhörte Stabilität des französischen Wesens, das selbst den stürmischsten und naturgewaltigsten Aufforderungen, sich den Erfordernissen der Stunde anzupassen, mit einer Hartnäckigkeit widersteht, die im gleichen Atem den Zorn und die Bewunderung der Umwelt erregt.“ Die französische Version von Lüthys Buch „A l´heure de son clocher: essai sur la France“ lässt denn auch die gemütliche Provinzen Frankreichs anklingen, wie von Charles Trenet in „Douce France“ in den 1930ern besungen, nicht das hektische Paris.[10]

Lüthy notiert, wie sehr Frankreich in seinen merkantilen Wirtschaftskonzepten hinterherhinkt. Denn „Frankreich wird seit Jahrzehnten nicht regiert, sondern verwaltet“. Was Herbert Lüthy 1954 schrieb, könnte auch heute noch gelten: „Jedes neue Regime, und Frankreich hat deren im Lauf zweier Jahrhunderte mehr als ein Dutzend geschaffen, kam mit einem revolutionären Programm umfassender Staats-, Verwaltungs- und Justizreformen zur Macht; keines hat mehr als Namen zu ändern und Personen auszuwechseln vermocht.“ Immerhin formte sich Frankreich zum harmonischen Hexagon, wie wir es kennen, unter König Philipp II. (1165-1223), auch Philipp der Träge genannt. Der ´Träge´ König baute die ersten Anfänge der Verwaltung in Paris auf und wurde dort mit seinem administrativen Unterbau sesshaft.

Administrative Dominanz: Die Kontinuität Frankreichs beschreibt Lüthy als Entwicklungsgeschichte seiner Verwaltung, sie ist die Kontinuität der Verwaltung. „Sie hat unerschüttert alle Dynastien, alle Revolutionen und alle Katastrophen überdauert. Hinter ständig wechselnden Fassaden der feudalen, absoluten, liberalen Monarchie, der Kaiserreiche und der Republiken in fortlaufender Numerierung, sind die großen Institutionen und Körperschaften – und damit dieser Staat selbst – die gleichen geblieben“ (Lüthy, op.cit., S.20).

Elite: In Wahrheit gelenkt wird der Verwaltungsstaat vom hohen Beamtentum (den Grand Commis), die an Ernst und Sachkenntnis den Politikern weit überlegenen Staatsdiener. Diese formen die Staatsräson und entscheiden „fast stets aus dem Geiste der Vergangenheit“. Die Beamtenelite ist „ein jedem politischen Eingriff entzogener, niemandem außer der eigenen Hierarchie verantwortlicher … Stand eigener Souveränität; …ein völlig geschlossenens Mandarinat, das sich von Kindesbeinen auf in den für die Laufbahn präparierenden großen Schulinternaten den Korpsgeist und das Bewusstsein einer ausgewählten Elite erworben … hat“ (Lüthy, S. 21).

Widerstand gegen die ´Technokraten´ (eux!) aus Paris kann zuweilen aus der France profonde, dem dörflichen Teil und der Provinz Frankreichs kommen. Kurz nachdem Fernsehbilder zeigten, wie Präsident Macron von OECD-Mitarbeitern im Château de la Muette gefeiert, ja angehimmelt wurde, stoppte den Technokraten-Messias der Protest der Gelbwesten aus der autoabhängigen Provinz[11]. „Messianismus und Krähwinkelei“ bilden in Frankreich eine Einheit, so Lüthy.

Wer aber Frankreich nicht nur als Rentner oder Tourist liebt, muss für es bangen. Das gilt heute mehr als vor 50 Jahren; mit gemeinsamer Währung und gemeinsamen Wirtschaftsraum hat besonders Deutschland sein Schicksal mit dem westlichen Nachbarn verknüpft. Zudem ist Deutschland selbst und noch mehr die EU, die in ihrem bürokratischen Wesen stark französisch geprägt ist, von ähnlichen Bürden geprägt, wie Bloch sie für Frankreichs „Seltsame Niederlage“ im Jahr 1940 aufschrieb[12].



[2] Claire Gatinois & Audrey Tonnelier (2021), “Vaccination: la bureaucratie mise en accusation”, Le Monde, 7. Januar.

[3] Redewendung aus der mexikanischen Revolution: https://fr.wiktionary.org/wiki/arm%C3%A9e_mexicaine. Bedeutung: ineffektive Organisation mit einer hierarchischen Struktur, die ein Übermaß an Führungskräften und Vorgesetzten beinhaltet.

[4] Zu erwähnen ist auch Alain Peyrefitte (1976), Le Mal français, Paris: Plon.

[5] Marc Bloch (1946), L'Étrange Défaite, Paris: Société des Éditions “Franc-Tireur”.

[6] Zur Aufnahmeprüfung bei der Kriegshochschule wollte Bloch sich nicht anmelden, weshalb er nicht über den Rang eines Hauptmanns hinauskam.

[7] Herbert Lüthy (1954), Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich: Europa Verlag. Idem (1955), A l'heure de son clocher: essai sur la France, Paris: Calmann-Levy.

[8] Vgl. etwa Jacques Chapsal (1955), „Luthy (Herbert)”, Revue française de science politique, Vol. 5-4, S. 898ff.

[9] Friedrich Sieburg (1954), “Im Brennpunkt des Gesprächs: Frankreichs Uhren gehen anders“, Die Zeit, 13. Mai.

[10] Die Regierung der vereinigten linken französischen Parteien (Front Populaire), die zur Zeit der Dritten Republik 1936 an die Macht kam (Premierministers Léon Blum), machte die gesetzlichen Ferien (congés payés) allgemein verbindlich.

[11] Einer der wenigen Journalisten, der Macrons Hilfslosigkeit im schwierigen Reformumfeld Frankreichs intellektuell durchdrungen zu haben scheint, ist Thomas Schmid (2018), „Die Gelbwesten oder Warum Frankreichs Uhren anders gehen“, https://schmid.welt.de/, 12. Dezember.

[12] Hans Magnus Enzensberger (2011), Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, Suhrkamp.

 

Tuesday 5 January 2021

Frankreichs Uhren gehen anders


 

Frankreichs Uhren gehen anders. Frankreich, "dieses Widerstandszentrum gegen die Technifizierung und Mechanisierung des Lebens“, ohne das Europa "arm und innerlich reif für jede Kolonisation" wäre[1].

Seit Jahrzehnten rühmt sich Frankreich damit, dass sein teures öffentliches Gesundheitssystem seine 67 Millionen Einwohner von der Geburt bis zum Lebensende bestens versorgt. Louis Pasteur, der in den 1880er Jahren den ersten Impfstoff der Welt erfand, wird landesweit verehrt. Im Coronajahr 2020 hat der Ruf der französischen Gesundheitspolitik allerdings schweren Schaden genommen; Kanzlerin Angela Merkel warnte sogar vor „französischen Verhältnissen“ angesichts der vielen Triages, Toten und Transfers schwerkranker Patienten nach Deutschland. Trotz hohen Aufwands fehlen Intensivbetten. Das Management von Masken, Tests, Rückverfolgung und Isolierung ist chaotisch.

In den ersten Tagen des Jahres 2021 hat Frankreichs Unfähigkeit, ein glaubwürdiges COVID-19-Impfprogramm zu organisieren, die tiefen Mängel sowohl im Gesundheits- als auch im politischen System bestätigt. Diese drohen die Pandemie zu verlängern, Tausende von unnötigen Todesfällen zu verursachen und die Wirtschaft zu ruinieren. Innerhalb der EU bremsen dieselben Handicaps – die Langsamkeit der Europäischen Arzneimittelagentur EMA sowie die industriepolitisch verzögerte und reduzierte Bestellung der EU der fortgeschrittensten Impfstoffe der Firmen BioNTech und Moderna. Doch die Tabelle deutet auf die krassen Unterschiede: Deutschland mag einen Stolperstart hingelegt haben; Frankreich hängt immer noch in den Startlöchern. Hier ist der bindende Engpass nicht der Mangel an Impfstoffen: Von den bis am Jahresende in Frankreich erhaltenen 560.000 Dosen wurden bis zum 4. Januar nur 2000 gespritzt. Frankreichs Uhren gehen anders.

 

Covid-Impfungen in fünf großen EU-Staaten,

Ranking per 4. Januar 2021

EU-Staat

Impfungen, Dosen

vH der Bevölkerung

Deutschland

265.986

0,32

Italien

128.880

0,21

Spanien

82.834

0,18

Polen

50.391

0,13

Frankreich

2.000

0,00

Quellen: Bloomberg; Covidtracker.fr

 

Der französische MIT-Doktorant Antoine Lévy, ein wahrer touche-à-tout (Tausendsassa)[2], hat in einem vielbeachteten Zeitungsartikel im Le Figaro die wesentlichen Facetten des Versagens der französischen Coronoapolitik benannt[3]. Er benennt fünf wesentliche Irrtümer:

·       Das verkannte Primat der Logistik, nach Charles de Gaulles Motto „L´intendance suivra“[4].

·       Unterlassungsfehler aus Angst vor strafrechtlicher Verantwortung, die Lévy mit demTrauma des französischen Blutskandals erklärt. In den 1980ern waren wissentlich HIV-kontaminierte Blutprodukte bis zur Leerung der Lager verabreicht worden.

·       Staatsinvestitionen ohne Kosten-Nutzen-Analyse mit der Folge falscher Prioritäten. Hunderte von Milliarden Euro wurden seit März 2020 verplant, ohne genügend Geld für die erforderliche logistische Infrastruktur zur Herdenimmunisierung vorzusehen.

·       Staats- und Administrationsversagen mit wortreichen Ausflüchten, Desinformation und Kriegsmetaphorik: Erst war China schuld, dann Brüssel, dann der Kapitalismus – eine omnipräsente Kultur der Ausflüchte.  Doch der schleppende Aufbau von Testkapazitäten, das Misstrauen in private Laboreinrichtungen sowie unterbezahltes und unzureichendes Personal in Frankreichs öffentlichen Krankenhäusern liegen laut Lévy in der Verantwortung der französischen Politik.[5]

·       Realitätsverlust einer Regierung, die in Pädagogik und Kommunikation („Logorrhöe“) vernarrt, die Aktion angesichts einer bedrohlichen Krise vernachlässigt. „Die krankhafte Besessenheit mit höflicher Sprache, die niemals missfallen darf, zum Nachteil der nüchternen Konfrontation mit der Wahl, die die Realität in all ihren Schwierigkeiten auferlegt“ (meine Übersetzung), hierin ortet der Autor das größte Versäumnis. 

Solche Klagen sind nicht neu, was Frankreich betrifft. Die Langsamkeit der politischen Entscheidungsprozesse, die lähmende Hierarchisierung einer ungleichen Gesellschaft und die Geringschätzung der operationellen Durchführung wurden immer wieder beschrieben und analysiert. Neben dem eingangs zitierten Buch des Basler Historikers Herbert Lüthy denke ich an den von den Nazis gefolterten und ermordeten Historiker Marc Bloch (L´Étrange Défaite) und den französischen Staatsmann Alain Peyrefitte (Le Mal Français). Was können wir aus deren Werken lernen? Davon wird die zweite Folge handeln.



[1] Herbert Lüthy (1954), Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich: Europa Verlag. Die Zitate ebenda.

[2] Sofia Tong (2020), “Economist Antoine Levy is all over the map”, MIT News, 21. August.

[4] Frei übersetzt: Die Verwaltung wird folgen.

[5] Siehe dazu schon Michaela Wiegel (2020), „Frankreich in der Corona-Krise: aus der Bahn geworfen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April.