Frankreich: Verwaltungselite und Provinz bestimmen das Reformtempo
Dieser Beitrag folgt
meiner Zusammenfassung des in Frankreich vielbeachteten Aufsatzes[1]
des jungen MIT-Ökonomen Antoine Lévy
in Le Figaro vom 2. Januar 2021.
Darin hatte Lévy den Spätstart der Covid-Impfung in Frankreich beklagt. Die Geringschätzung der
Logistik, Verantwortungsflucht, Staats- und Administrationsversagen sowie
Realitätsverlust der Regierung nannte Lévy als wesentliche Merkmale des französischen Rückstands.
Eine Woche später erschien in Le Monde ein Artikel (der inzwischen
umfirmiert wurde), welcher den Akzent legt auf
· Frankreichs hypertrophe
Bürokratie im Gesundheitswesen[2].
Dort hat Frankreich 93.000 Verwaltungseinheiten (bei Staat, Sozialversicherung,
und Kommunen), die öffentliche Gelder ausgeben können; in Deutschland sind es
15.000.
· Zentralismus
mit einer vertikalen,
silobasierten Organisation der Ministerien. Der Gesundheitsminister gibt seine
Anweisungen an die Programmverwalter, die wiederum das Geld an die
Verantwortlichen in den Gebieten delegieren.
· Arroganz: Vor Ort beschweren sich Bürgermeister und lokale
Behörden über die Arroganz hoher Beamter, von denen sie selbst in einer Notsituation, in der Einigkeit herrschen sollte, missachtet werden.
· Hyperkontrolle: Das Misstrauen der Zentralregierung und die
Detailversessenheit seien paradoxerweise durch die verschiedenen
Dezentralisierungsgesetze noch verstärkt worden. Der Staat, der nicht mehr
Akteur, sondern Auftraggeber ist, hat dann seinen Machtverlust durch
Hyper-Kontrolle kompensiert.
· Verwaltungsreform 2022: Was hat das Comité action publique 2022 gebracht? "Nichts", sagt der Ökonom Jean Pisani-Ferry knapp. "Es war eine Art mexikanische Armee[3]", bestätigt Philippe Aghion, Professor am Collège de France, der auch Mitglied der Reformkommission war. „Wir setzten Bürokratie ein, um uns mit den Bürokraten zu beschäftigen“.
Bedrückend und
beeindruckend, wie wenig Frankreich sich im letzten Jahrhundert in
dieser Hinsicht verändert zu haben scheint. Nehmen wir als Kronzeugen, in
chronologischer Reihenfolge, Schriften[4]
von Marc Bloch und Herbert Lüthy.
Mit ihren bahnbrechenden
Arbeiten haben die Historiker um die Zeitschrift Annales die Geschichtswissenschaft revolutioniert. Statt Schlachten
und Ereignissen aufzulisten, wollen die Annales-Historiker
das menschliche Handeln in seiner ganzen Breite zeigen und dafür die
Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Geographie, der Soziologie oder
der Wirtschaftswissenschaft suchen. Der Medievist und Agrarhistoriker Marc Bloch war (neben Lucien Febvre) Mitgründer der
„Annales“-Geschichtsschreibung; ein anderer berühmter Vertreter war Fernand Braudel. Marc Bloch entstammte
einer ursprünglich im Elsass ansässigen jüdischen Familie, die nach dem
Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 das Elsass verlassen hatte.
In L'Étrange Défaite (1946)[5]
untersucht Marc Bloch 1940 als Soldat aus der Froschperspektive[6]
die Gründe für die französische Niederlage in der Schlacht um Frankreich
während des Zweiten Weltkriegs, der Drôle
de Guerre. Blochs Essay der Zeitgeschichte ist ein Zeugnis für die
Unzulänglichkeiten der Eliten, die im
Mai 1940 in den Krieg eintraten.
Zunächst prangerte er den
bürokratischen Charakter der Armee an, den er auf die in Friedenszeiten
angenommenen Gewohnheiten zurückführte: insbesondere den Kult des schönen Papiers, aber auch die "Angst, einem
mächtigen Mann von heute oder morgen zu missfallen". Diese bürokratische
Organisation ist nach Marc Bloch auch in der Ausbildung der Offiziere selbst
begründet, die sich um einen Theorie- und
Traditionskult dreht. Die Offiziersausbildung
basierte auf eleganten und abstrakten theoretischen Einsatzregeln, die sich in
der Praxis nicht bewährten.
Zudem verlangsamte ein Geheimhaltungs- und Befehlskult die
Weitergabe von Informationen. Die Kombination aus Bürokratie und starrer
Ausbildung führt zu allgemeiner Unordnung im Feld, da die Führungskräfte zu
schnell wechseln. Die Aufklärung über Feindstellungen wird durch kärgliche
Information der operativen Ebene verhindert, da die relevanten Informationen
als geheim eingestuft und zu weit oben in der Hierarchie kommuniziert werden.
Alle Informationen durchlaufen sehr lange hierarchische Kanäle, und am Ende
sind sie veraltet, wenn sie die Leute erreichen, die sie nutzen sollten.
=> Verwässerung der Verantwortung zwischen zu
vielen Hierarchieebenen und eine Verzögerung bei der Übermittlung von Anweisungen.
Dadurch wird es unmöglich einzuschätzen, innerhalb welcher Zeitspanne ein
Befehl ausgeführt werden kann, was zu kontraproduktiven Manövern führt, wie
z.B. der Rückzug der Armeen an der Maas und bei Sedan vor dem deutschen
Durchbruch in den belgischen Ardennen. Auch waren die höheren Offiziere immer
wieder überrascht, dass "die Deutschen sich einfach schneller bewegt
hatten, als es die Regel zu sein schien", wobei die Regel auf dem Studium
der napoleonischen Feldzüge und des Ersten Weltkriegs beruhte: das starre und
rückwärtsgewandte strategische Denken der französischen Führung, so Bloch.
Flucht aus der Verantwortung: Marc Blochs Anklage gegen den französischen
Generalstab, der jede Verantwortung für die Niederlage der französischen Armee
im Jahr 1940 von sich weist, wiegt besonders schwer, da in seinen Augen die
Generäle unfähig waren, sich den neuen Realitäten des mobilisierten
Bewegungskriegs mit Panzern und Luftwaffe anzupassen.
Ein Buch des Basler
Historikers Herbert Lüthy[7] erregte
kurz nach Blochs Veröffentlichung sowohl in Frankreich[8]
als auch in Deutschland und der Schweiz Aufmerksamkeit. Frankreichs Uhren
gehen anders, nicht unbedingt falsch!
Daraus spricht, wie Friedrich Sieburg[9]
anmerkte, „Einsicht in die unerhörte Stabilität des französischen Wesens, das
selbst den stürmischsten und naturgewaltigsten Aufforderungen, sich den
Erfordernissen der Stunde anzupassen, mit einer Hartnäckigkeit widersteht, die
im gleichen Atem den Zorn und die Bewunderung der Umwelt erregt.“ Die
französische Version von Lüthys Buch „A l´heure de son clocher: essai sur la France“
lässt denn auch die gemütliche Provinzen Frankreichs anklingen, wie von Charles
Trenet in „Douce France“ in den 1930ern besungen, nicht das hektische
Paris.[10]
Lüthy notiert, wie sehr
Frankreich in seinen merkantilen Wirtschaftskonzepten hinterherhinkt. Denn „Frankreich
wird seit Jahrzehnten nicht regiert, sondern verwaltet“. Was Herbert Lüthy 1954
schrieb, könnte auch heute noch gelten: „Jedes neue Regime, und Frankreich hat
deren im Lauf zweier Jahrhunderte mehr als ein Dutzend geschaffen, kam mit
einem revolutionären Programm umfassender Staats-, Verwaltungs- und
Justizreformen zur Macht; keines hat mehr als Namen zu ändern und Personen
auszuwechseln vermocht.“ Immerhin formte
sich Frankreich zum harmonischen Hexagon, wie wir es kennen, unter König
Philipp II. (1165-1223), auch Philipp der Träge genannt. Der ´Träge´ König
baute die ersten Anfänge der Verwaltung in Paris auf und wurde dort mit seinem
administrativen Unterbau sesshaft.
Administrative Dominanz: Die Kontinuität Frankreichs beschreibt Lüthy als
Entwicklungsgeschichte seiner Verwaltung, sie ist die Kontinuität der
Verwaltung. „Sie hat unerschüttert alle Dynastien, alle Revolutionen und alle
Katastrophen überdauert. Hinter ständig wechselnden Fassaden der feudalen,
absoluten, liberalen Monarchie, der Kaiserreiche und der Republiken in fortlaufender
Numerierung, sind die großen Institutionen und Körperschaften – und damit
dieser Staat selbst – die gleichen geblieben“ (Lüthy, op.cit., S.20).
Elite: In Wahrheit gelenkt wird der Verwaltungsstaat vom hohen Beamtentum (den Grand
Commis), die an Ernst und Sachkenntnis den Politikern weit überlegenen
Staatsdiener. Diese formen die Staatsräson und entscheiden „fast stets aus dem
Geiste der Vergangenheit“. Die
Beamtenelite ist „ein jedem politischen Eingriff entzogener, niemandem außer
der eigenen Hierarchie verantwortlicher … Stand
eigener Souveränität; …ein völlig geschlossenens Mandarinat, das sich von Kindesbeinen auf in den für die Laufbahn
präparierenden großen Schulinternaten den Korpsgeist und das Bewusstsein einer
ausgewählten Elite erworben … hat“ (Lüthy, S. 21).
Widerstand gegen die ´Technokraten´
(eux!) aus Paris kann zuweilen aus der France
profonde, dem dörflichen Teil und der Provinz Frankreichs kommen. Kurz
nachdem Fernsehbilder zeigten, wie Präsident Macron von OECD-Mitarbeitern im
Château de la Muette gefeiert, ja angehimmelt wurde, stoppte den
Technokraten-Messias der Protest der Gelbwesten aus der autoabhängigen Provinz[11].
„Messianismus und Krähwinkelei“ bilden in Frankreich eine Einheit, so Lüthy.
Wer
aber Frankreich nicht nur als Rentner oder Tourist liebt, muss für es bangen.
Das gilt heute mehr als vor 50 Jahren; mit gemeinsamer Währung und gemeinsamen
Wirtschaftsraum hat besonders Deutschland sein Schicksal mit dem westlichen
Nachbarn verknüpft. Zudem ist Deutschland selbst und noch mehr die EU, die in
ihrem bürokratischen Wesen stark französisch geprägt ist, von ähnlichen Bürden
geprägt, wie Bloch sie für Frankreichs „Seltsame Niederlage“ im Jahr 1940 aufschrieb[12].
[1] Antoine Lévy (2021), „La
lenteur de la vaccination française est un symptôme de notre déclassement”,
Le Figaro, 1. Januar. https://reibreisen.blogspot.com/2021/01/frankreichs-uhren-gehen-anders.html: mein Blogpost dazu.
[2] Claire Gatinois & Audrey Tonnelier (2021), “Vaccination:
la bureaucratie mise en accusation”, Le Monde, 7. Januar.
[3] Redewendung aus der mexikanischen Revolution: https://fr.wiktionary.org/wiki/arm%C3%A9e_mexicaine. Bedeutung: ineffektive Organisation mit einer
hierarchischen Struktur, die ein Übermaß an Führungskräften und Vorgesetzten
beinhaltet.
[4] Zu erwähnen ist auch Alain Peyrefitte (1976), Le Mal français, Paris: Plon.
[5] Marc Bloch (1946), L'Étrange Défaite, Paris: Société des Éditions “Franc-Tireur”.
[6] Zur Aufnahmeprüfung bei der Kriegshochschule wollte Bloch sich nicht
anmelden, weshalb er nicht über den Rang eines Hauptmanns hinauskam.
[7] Herbert Lüthy (1954), Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich: Europa Verlag. Idem (1955), A l'heure de son
clocher: essai sur la France, Paris: Calmann-Levy.
[8] Vgl. etwa Jacques Chapsal (1955), „Luthy
(Herbert)”, Revue française de
science politique, Vol. 5-4, S. 898ff.
[9] Friedrich Sieburg (1954), “Im Brennpunkt
des Gesprächs: Frankreichs Uhren gehen anders“, Die Zeit, 13. Mai.
[10] Die Regierung der vereinigten linken französischen Parteien (Front Populaire), die zur Zeit der
Dritten Republik 1936 an die Macht kam (Premierministers Léon Blum), machte die
gesetzlichen Ferien (congés payés) allgemein verbindlich.
[11] Einer der wenigen Journalisten, der Macrons Hilfslosigkeit im schwierigen Reformumfeld
Frankreichs intellektuell durchdrungen zu haben scheint, ist Thomas Schmid
(2018), „Die
Gelbwesten oder Warum Frankreichs Uhren anders gehen“, https://schmid.welt.de/, 12.
Dezember.
[12] Hans Magnus Enzensberger (2011), Sanftes Monster Brüssel oder Die
Entmündigung Europas, Suhrkamp.
No comments:
Post a Comment