Frankreichs Uhren gehen anders. Frankreich, "dieses
Widerstandszentrum gegen die Technifizierung und Mechanisierung des Lebens“,
ohne das Europa "arm und innerlich reif für jede Kolonisation" wäre[1].
Seit Jahrzehnten rühmt sich Frankreich damit, dass
sein teures öffentliches Gesundheitssystem seine 67 Millionen Einwohner von der
Geburt bis zum Lebensende bestens versorgt. Louis Pasteur, der in den 1880er
Jahren den ersten Impfstoff der Welt erfand, wird landesweit verehrt. Im
Coronajahr 2020 hat der Ruf der französischen Gesundheitspolitik allerdings
schweren Schaden genommen; Kanzlerin Angela Merkel warnte sogar vor
„französischen Verhältnissen“ angesichts der vielen Triages, Toten und
Transfers schwerkranker Patienten nach Deutschland. Trotz hohen Aufwands fehlen
Intensivbetten. Das Management von Masken, Tests, Rückverfolgung und Isolierung
ist chaotisch.
In den ersten Tagen des Jahres 2021 hat
Frankreichs Unfähigkeit, ein glaubwürdiges COVID-19-Impfprogramm zu
organisieren, die tiefen Mängel sowohl im Gesundheits- als auch im politischen
System bestätigt. Diese drohen die Pandemie zu verlängern, Tausende von
unnötigen Todesfällen zu verursachen und die Wirtschaft zu ruinieren. Innerhalb
der EU bremsen dieselben Handicaps – die Langsamkeit der Europäischen
Arzneimittelagentur EMA sowie die industriepolitisch verzögerte und reduzierte
Bestellung der EU der fortgeschrittensten Impfstoffe der Firmen BioNTech und
Moderna. Doch die Tabelle deutet auf die krassen Unterschiede: Deutschland mag
einen Stolperstart hingelegt haben; Frankreich hängt immer noch in den
Startlöchern. Hier ist der bindende Engpass nicht der Mangel an Impfstoffen:
Von den bis am Jahresende in Frankreich erhaltenen 560.000 Dosen wurden bis zum
4. Januar nur 2000 gespritzt. Frankreichs Uhren gehen anders.
Covid-Impfungen in fünf großen EU-Staaten,
Ranking per 4. Januar
2021
EU-Staat |
Impfungen, Dosen |
vH der Bevölkerung |
Deutschland |
265.986 |
0,32 |
Italien |
128.880 |
0,21 |
Spanien |
82.834 |
0,18 |
Polen |
50.391 |
0,13 |
Frankreich |
2.000 |
0,00 |
Quellen: Bloomberg; Covidtracker.fr
Der französische MIT-Doktorant Antoine Lévy, ein
wahrer touche-à-tout (Tausendsassa)[2],
hat in einem vielbeachteten Zeitungsartikel im Le Figaro die wesentlichen Facetten des Versagens der französischen
Coronoapolitik benannt[3].
Er benennt fünf wesentliche Irrtümer:
· Das verkannte Primat
der Logistik, nach Charles de Gaulles Motto „L´intendance suivra“[4].
· Unterlassungsfehler
aus Angst vor strafrechtlicher
Verantwortung, die Lévy mit demTrauma des französischen Blutskandals erklärt.
In den 1980ern waren wissentlich HIV-kontaminierte Blutprodukte bis zur Leerung
der Lager verabreicht worden.
· Staatsinvestitionen ohne Kosten-Nutzen-Analyse mit der Folge falscher
Prioritäten. Hunderte von Milliarden
Euro wurden seit März 2020 verplant, ohne genügend Geld für die erforderliche
logistische Infrastruktur zur Herdenimmunisierung vorzusehen.
· Staats- und Administrationsversagen mit wortreichen
Ausflüchten, Desinformation und Kriegsmetaphorik: Erst war China schuld, dann
Brüssel, dann der Kapitalismus – eine omnipräsente Kultur der Ausflüchte. Doch der schleppende Aufbau von Testkapazitäten,
das Misstrauen in private Laboreinrichtungen sowie unterbezahltes und unzureichendes
Personal in Frankreichs öffentlichen Krankenhäusern liegen laut Lévy in der Verantwortung
der französischen Politik.[5]
· Realitätsverlust einer Regierung, die in Pädagogik und Kommunikation („Logorrhöe“) vernarrt, die Aktion angesichts einer bedrohlichen Krise vernachlässigt. „Die krankhafte Besessenheit mit höflicher Sprache, die niemals missfallen darf, zum Nachteil der nüchternen Konfrontation mit der Wahl, die die Realität in all ihren Schwierigkeiten auferlegt“ (meine Übersetzung), hierin ortet der Autor das größte Versäumnis.
Solche Klagen sind nicht neu, was Frankreich betrifft. Die Langsamkeit der politischen Entscheidungsprozesse, die lähmende Hierarchisierung einer ungleichen Gesellschaft und die Geringschätzung der operationellen Durchführung wurden immer wieder beschrieben und analysiert. Neben dem eingangs zitierten Buch des Basler Historikers Herbert Lüthy denke ich an den von den Nazis gefolterten und ermordeten Historiker Marc Bloch (L´Étrange Défaite) und den französischen Staatsmann Alain Peyrefitte (Le Mal Français). Was können wir aus deren Werken lernen? Davon wird die zweite Folge handeln.
[1] Herbert Lüthy (1954), Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich: Europa
Verlag. Die Zitate ebenda.
[2] Sofia Tong (2020), “Economist Antoine
Levy is all over the map”, MIT News,
21. August.
[3] Antoine Lévy (2021), „La
lenteur de la vaccination française est un symptôme de notre déclassement”,
Le Figaro, 1. Januar.
[4] Frei übersetzt: Die Verwaltung wird folgen.
[5] Siehe dazu schon Michaela Wiegel (2020), „Frankreich
in der Corona-Krise: aus der Bahn geworfen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April.
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