Tuesday, 5 January 2021

Frankreichs Uhren gehen anders


 

Frankreichs Uhren gehen anders. Frankreich, "dieses Widerstandszentrum gegen die Technifizierung und Mechanisierung des Lebens“, ohne das Europa "arm und innerlich reif für jede Kolonisation" wäre[1].

Seit Jahrzehnten rühmt sich Frankreich damit, dass sein teures öffentliches Gesundheitssystem seine 67 Millionen Einwohner von der Geburt bis zum Lebensende bestens versorgt. Louis Pasteur, der in den 1880er Jahren den ersten Impfstoff der Welt erfand, wird landesweit verehrt. Im Coronajahr 2020 hat der Ruf der französischen Gesundheitspolitik allerdings schweren Schaden genommen; Kanzlerin Angela Merkel warnte sogar vor „französischen Verhältnissen“ angesichts der vielen Triages, Toten und Transfers schwerkranker Patienten nach Deutschland. Trotz hohen Aufwands fehlen Intensivbetten. Das Management von Masken, Tests, Rückverfolgung und Isolierung ist chaotisch.

In den ersten Tagen des Jahres 2021 hat Frankreichs Unfähigkeit, ein glaubwürdiges COVID-19-Impfprogramm zu organisieren, die tiefen Mängel sowohl im Gesundheits- als auch im politischen System bestätigt. Diese drohen die Pandemie zu verlängern, Tausende von unnötigen Todesfällen zu verursachen und die Wirtschaft zu ruinieren. Innerhalb der EU bremsen dieselben Handicaps – die Langsamkeit der Europäischen Arzneimittelagentur EMA sowie die industriepolitisch verzögerte und reduzierte Bestellung der EU der fortgeschrittensten Impfstoffe der Firmen BioNTech und Moderna. Doch die Tabelle deutet auf die krassen Unterschiede: Deutschland mag einen Stolperstart hingelegt haben; Frankreich hängt immer noch in den Startlöchern. Hier ist der bindende Engpass nicht der Mangel an Impfstoffen: Von den bis am Jahresende in Frankreich erhaltenen 560.000 Dosen wurden bis zum 4. Januar nur 2000 gespritzt. Frankreichs Uhren gehen anders.

 

Covid-Impfungen in fünf großen EU-Staaten,

Ranking per 4. Januar 2021

EU-Staat

Impfungen, Dosen

vH der Bevölkerung

Deutschland

265.986

0,32

Italien

128.880

0,21

Spanien

82.834

0,18

Polen

50.391

0,13

Frankreich

2.000

0,00

Quellen: Bloomberg; Covidtracker.fr

 

Der französische MIT-Doktorant Antoine Lévy, ein wahrer touche-à-tout (Tausendsassa)[2], hat in einem vielbeachteten Zeitungsartikel im Le Figaro die wesentlichen Facetten des Versagens der französischen Coronoapolitik benannt[3]. Er benennt fünf wesentliche Irrtümer:

·       Das verkannte Primat der Logistik, nach Charles de Gaulles Motto „L´intendance suivra“[4].

·       Unterlassungsfehler aus Angst vor strafrechtlicher Verantwortung, die Lévy mit demTrauma des französischen Blutskandals erklärt. In den 1980ern waren wissentlich HIV-kontaminierte Blutprodukte bis zur Leerung der Lager verabreicht worden.

·       Staatsinvestitionen ohne Kosten-Nutzen-Analyse mit der Folge falscher Prioritäten. Hunderte von Milliarden Euro wurden seit März 2020 verplant, ohne genügend Geld für die erforderliche logistische Infrastruktur zur Herdenimmunisierung vorzusehen.

·       Staats- und Administrationsversagen mit wortreichen Ausflüchten, Desinformation und Kriegsmetaphorik: Erst war China schuld, dann Brüssel, dann der Kapitalismus – eine omnipräsente Kultur der Ausflüchte.  Doch der schleppende Aufbau von Testkapazitäten, das Misstrauen in private Laboreinrichtungen sowie unterbezahltes und unzureichendes Personal in Frankreichs öffentlichen Krankenhäusern liegen laut Lévy in der Verantwortung der französischen Politik.[5]

·       Realitätsverlust einer Regierung, die in Pädagogik und Kommunikation („Logorrhöe“) vernarrt, die Aktion angesichts einer bedrohlichen Krise vernachlässigt. „Die krankhafte Besessenheit mit höflicher Sprache, die niemals missfallen darf, zum Nachteil der nüchternen Konfrontation mit der Wahl, die die Realität in all ihren Schwierigkeiten auferlegt“ (meine Übersetzung), hierin ortet der Autor das größte Versäumnis. 

Solche Klagen sind nicht neu, was Frankreich betrifft. Die Langsamkeit der politischen Entscheidungsprozesse, die lähmende Hierarchisierung einer ungleichen Gesellschaft und die Geringschätzung der operationellen Durchführung wurden immer wieder beschrieben und analysiert. Neben dem eingangs zitierten Buch des Basler Historikers Herbert Lüthy denke ich an den von den Nazis gefolterten und ermordeten Historiker Marc Bloch (L´Étrange Défaite) und den französischen Staatsmann Alain Peyrefitte (Le Mal Français). Was können wir aus deren Werken lernen? Davon wird die zweite Folge handeln.



[1] Herbert Lüthy (1954), Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich: Europa Verlag. Die Zitate ebenda.

[2] Sofia Tong (2020), “Economist Antoine Levy is all over the map”, MIT News, 21. August.

[4] Frei übersetzt: Die Verwaltung wird folgen.

[5] Siehe dazu schon Michaela Wiegel (2020), „Frankreich in der Corona-Krise: aus der Bahn geworfen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April.

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