Friday 12 February 2021

Staatsschulden in Kriegszeiten

 


Staatsschulden in Kriegszeiten

Der Pandemieeinbruch von Beschäftigung und Output ist keine herkömmliche Rezession. Die erforderliche politische Reaktion sind keine üblichen Konjunkturmaßnahmen. Wir haben es stattdessen mit einer Naturkatastrophe statt einer normalen Rezession zu tun. Die angemessene politische Reaktion ist wie nach den Verheerungen großer Kriege Soforthilfe und dann Wiederaufbau[1]. Doch etliche Ökonomen hängen in ihrer Modellfalle, die Coronamassnahmen in herkömmlichen Konjunkturbegriffen zu bewerten.

Zwei prominente Ökonomen, Larry Summers und Olivier Blanchard, haben eine Kampagne gegen das 1,9 Billionen Dollar schwere Hilfspaket des neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden angezettelt[2]. Beide stützen sich dabei auf konventionelle Konjunkturkonzepte (Output-Lücke; nachfragebedingte Inflation). Beider Voten haben überrascht[3]. Gerald Braunberger, Herausgeber der FAZ, äußerte in einem Leitartikel: „Summers und Blanchard haben eine alte Weisheit verinnerlicht, die, wie die Reaktionen über das Wochenende zeigen, den zahlreichen Nachbetern, Nachtretern und verblendeten Ideologen unter den Ökonomen ihr Leben lang unverständlich bleibt: Man kann des Guten auch zu viel tun.“[4] Starker Tobak. Aber damit nicht genug: „Eine überdimensionierte Finanzpolitik kann, wenn die Leute nach der Pandemie wieder mehr Geld ausgeben, schnell zu höheren Teuerungsraten führen. Das gilt auch für Deutschland.“

Den Beitrag des einzigen Nobelpreisträgers zur aktuellen Stimulusdebatte wollte der FAZ-Herausgebern seiner Leserschaft wohl nicht zumuten. Paul Krugman hatte früh darauf hingewiesen, dass das Jahrhundert-Virus uns nicht eine herkömmliche – nachfragebedingte - Rezession – beschert hat. Stattdessen leiden wir unter einer Teilschließung, die das Ergebnis sowohl der öffentlichen Restriktionen als auch privater Entscheidungen ist. Aktivitäten mit hohem Infektionsrisiko wurden stark eingeschränkt. Eine Ankurbelung der Gesamtausgaben durch die Fiskal- und Geldpolitik würde die Gäste nicht zurück in die Restaurants locken. Bei der Pandemie und ihren Folgen auf Produktion und Beschäftigung handelt es sich also nicht um makroökonomische Nachfragedefizite, die durch Stimulierung geschlossen werden sollten.

Wir sind im Krieg mit dem Coronavirus. Macron sagte das, und es ist keine Übertreibung. Kriege sind destruktiv, Kriege sind disruptiv. In solchen Zeiten taugen weder makroökonomische Konzepte wie ´Outputlücken´ noch ´inflationsneutrale Arbeitslosenquote´. Der Output-Gap-versus-Stimulus-Rahmen trifft auf die aktuelle Krise wirklich nicht zu, und der Missbrauch dieses Rahmens kann schwer in die Irre führen.

Kriege, Krisen und Pandemien katapultieren traditionell die Staatsverschuldung in die Höhe. Der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg schufen schufen im 20. Jahrhundert neue Ansprüche an die öffentlichen Ausgaben. Zusammen trieben sie die Verschuldung der westlichen Industriestaaten auf etwa 140 Prozent des BIP im Jahr 1946, nach einem Tiefpunkt von gut 20 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Der historische Blick auf Staatsschulden im Laufe der Jahrhunderte[5] gibt Einblick in die sehr unterschiedlichen Folgen: in den schlimmsten Perioden Überschuldung, Bankenzusammenbrüche, Währungskrisen und Hyperinflation; in den besten dagegen Staatsbildung, Finanzmarktentwicklung sowie Ausbau ´harter´ und ´weicher´ Infrastruktur.  

Was den Ausgang hoher Staatsschulden beeinflusst, dazu bald mehr.

 



[1] Paul Krugman (2021), „Fighting Covid Is Like Fighting a War”, NYT, 7.2.2021.

[2] Winand von Petersdorff (2021), „Die Warnung der Progressiven an Präsident Biden“, FAZ, 7.2.2021.

[3] Summers hat den Begriff der säkularen Stagnation wiederbelebt, in der expansive Finanzpolitik ein dauerhaftes Abgleiten in eine Welt niedrigen Wachstums und tiefer Zinsen verhindern soll. Blanchard hatte parallel zu Summers Stagnationsthese die neue Rolle der Staatsverschuldung in einer Zeit niedriger Zinsen analysiert: Ein Zinsniveau unter der Wachstumsrate übersetzt sich in sinkende Schuldenquoten; Schulden heute sind nicht die Steuern von morgen. Das gilt besonders für den AAA-Schuldner Bundesrepublik Deutschland, der inflationsbereinigt negative Zinsen auf seine Anleihen zahlt.  Andererseits: Ohne staatliche Subventionen und Transfers würde der virusbedingte Einbruch der privaten Wirtschaft die Schuldenquoten infolge des geringeren BIP und Steuerausfällen weiter aufblähen.

[4] G. Braunberger, Spiel mit der Inflation, FAZ vom 7.2. 2021.

[5] Barry Eichengreen, et al. (2019), „Public Debt Through the Ages”, NBER Working Paper, #25494, 1.1.2019.

 

Thursday 4 February 2021

Tunesien: Vom Arabischen Frühling in den Covid-Winter




 Mein Beitrag wurde am 03.02.2021 vom MakronomMagazin publiziert: 

https://makronom.de/tunesien-vom-arabischen-fruehling-in-den-covid-winter-38250

Zum zehnten Jahrestag der Arabellion lieferten sich in Tunesien junge Menschen Straßenschlachten mit der Polizei. Die Menschen sind wütend und enttäuscht über die desolate Lage des Landes. „Die an der Macht sind jetzt andere, das System ist geblieben“. „Was nützt mir Pressefreiheit, wenn ich keine Arbeit habe?“, wird geklagt.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Mittel für Tunesien im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht. Herzstück des deutschen Engagements ist die Reformpartnerschaft mit Tunesien im Rahmen des Marshallplans mit Afrika. Sie wurde 2017 als bilateraler Beitrag zur G20-Initiative Compact with Africa geschlossen. Laut BMZ ist Tunesien ein politischer Hoffnungsträger in Nordafrika und nach einer langen Phase der Diktatur auf dem Weg, sich friedlich in einen Rechtsstaat umzuwandeln. Trotz politischer und sozialer Spannungen gilt die demokratische Entwicklung im Land als vorbildhaft, so das BMZ auf der offiziellen Tunesien-Seite. Die Zivilgesellschaft ist nach dem Ende des Ben Ali-Regimes gestärkt worden. „Die Zivilgesellschaften in der arabischen Welt schauen mit einigem Neid auf Tunesien“, meint etwa Isabelle Werenfels, die Tunesien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Geehrt wurden der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2015. Kurz: Tunesien ist ein Geber-Darling und in den Augen vieler „Westler“ so etwas wie ein Musterbeispiel für eine gelungene demokratische Transformation.

Zwar loben neue Analysen Tunesiens vergleichsweise guten Social Contract, sein inklusives Entwicklungsmodell. Doch Zweifel sind erlaubt, ob dies die Tunesier vor Ort auch so sehen. Gewaltsame Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei, Plünderungen von Supermärkten und Hunderte von Verhaftungen prägen derzeit die tunesischen Provinzen und Städte. Nahost-Volkswirte wie etwa Ishac Diwan haben bereits vor einiger Zeit gewarnt, dass in Tunesien Einiges aus dem Ruder läuft. Auch vor der Covid-Pandemie laugten Vetternwirtschaft und illegale Untergrundaktivitäten das Wachstum der tunesischen Wirtschaft abseits des korruptionsanfälligen Bausektors aus, eine Folge der geschwächten staatlichen Kapazität zur Durchsetzung von Recht und Gesetz. Während die öffentlichen Investitionen bei 5% des BIP schwächelten, stieg im vergangenen Jahrzehnt die öffentliche Lohnsumme von 10 auf 15% des BIP. Auch vom Anstieg der Sozialausgaben profitierten vornehmlich Beamte, nicht das arme Hinterland. Der Gini-Koeffizient blieb hoch, bei 40%.

Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland

Besonders das nahe Italien spürt die unverminderte Migrationswelle aus Tunesien. In Tunesien wird die illegale Emigration nach Europa, typischerweise mit dem Boot, gemeinhin als Harqa (arabisch für das Verbrennen der Grenze) bezeichnet. Harqa ist eine Ausstiegsstrategie derjenigen, die zu Hause eine starke Marginalisierung erfahren. Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland. Laut Migrationdataportal lag Tunesiens Wanderungsverlust (Immigration – Emigration) zwischen 2011 und 2020 bei insgesamt 170.000 . Fast 7% der tunesischen Bevölkerung (knapp 12 Millionen) leben im Ausland. Die tunesische Diaspora stützte 2020 die notorisch defizitäre Leistungsbilanz mit privaten Rücküberweisungen in Höhe von 5% des Volkseinkommens (BSP).

Die Covid-Pandemie trifft Tunesien besonders schwer

Eine Vielzahl von Problemen plagt Tunesien auch nach dem Arabischen Frühling. Einige prominente Beispiele sind die Stagnation des landesweiten Lebensstandards, die allgegenwärtige Korruption und eine überaus hohe Arbeitslosenquote. Laut IWF hat sich seit dem Arabischen Frühling der Außenwert des Dinars zum Euro halbiert, auch die Devisenreserven sanken im letzten Jahrzehnt um die Hälfte.

Natürlich hat die Covid-Pandemie Tunesien besonders getroffen, da Beschäftigung und Deviseneinnahmen stark vom Tourismus abhängen. Aber laut OECD-Analyse haben sich die Direktinvestoren seit dem Arabischen Frühling stark zurückgehalten, sodass das Land sich zu wenig von der Abhängigkeit vom Tourismus durch neue Arbeitsplätze wegdiversifizieren konnte. Die formale Beschäftigung hat sich zu wenig entwickelt, um die Jugend einzubinden und ihr eine Perspektive zu geben. Die verhältnismäßig gute Ausbildung der jungen Tunesier impliziert auch Friktionen beim Arbeitsangebot: Welche Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung werden überhaupt angenommen? Saubere Büroberufe (nicht Jobs in der industriellen Fertigung) sind das Ziel der formell gut ausgebildeten Jugend.

Wohlfeile wirtschaftspolitische Ratschläge gehen den „Hinterbänklern“ aus Washington, Paris oder Berlin leicht von der Hand[9]. Man kennt sie bis zum Abwinken:

  • arbeitsintensive Industrien fördern, am besten durch attraktive Standortbedingungen für ausländische Direktinvestitionen;
  • Subventionen für fossile Energieträger kürzen oder streichen;
  • den Staatshaushalt konsolidieren durch Kürzung des öffentlichen Konsums.

Allerdings scheinen der fiskalische Spielraum der Regierung und die Geduld der Bevölkerung ausgereizt. Die Kürzung des öffentlichen Konsums, der zur Hälfte aus Beamtengehältern besteht, würde auch die Beamten gegen die Regierung aufbringen. Höhere Energiepreise treffen die Provinz und den ärmeren Teil der Bevölkerung. Die ausländischen Direktinvestoren ziehen trotz deutlich niedrigeren politischen Gouvernanz-Noten den Standort Ägypten vor, wo der Militärkomplex die Industriepolitik bestimmt und für die Sicherheit von Direktinvestitionen bürgt. Ist die junge Bevölkerung Tunesiens zu nah an Europa und zu gut ausgebildet, als das dort das asiatische Modell der Transformation durch arbeitsintensive Industrien wirklich eine Chance hätte? So jedenfalls hört man aus Expertenkreisen vor Ort.

Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv

Kein Zweifel: Im Prinzip verfügt Tunesien über Trümpfe, und ist recht gut in globale Wertschöpfungsketten eingebunden: seine geografische Lage an der Grenze zwischen Europa und Afrika, langjährige Investitionen in die Bildung, Spezialisierung auf Zukunftsnischen, darunter der Pharma- oder Informationstechnologiebereich. Tunesiens Attraktivität leidet jedoch unter

  • den zahlreichen, oft schwerfälligen Vorschriften und Verwaltungsverfahren,
  • den Vorschriften für ausländische Investitionen, die restriktiver sind als in Ägypten und Marokko, und
  • den Verzögerungen beim Grenzübertritt (Zoll und Transportlogistik), die oft länger sind als anderswo.
  • Einige Investoren beklagten auch eine Qualifikationslücke, obwohl 28% der Hochschulabsolventen arbeitslos sind.

Eine Bemerkung des Nahostexperten Stefano Torelli vom römischen Politikinstitut ISPI (Istituto per gli studi di politica internazionale) aus dem Jahre 2017 klingt heute als Mahnung, auch für das BMZ:

„Einer der Fehler der letzten Jahre war die Tendenz der EU, das Loblied auf die tunesische Demokratisierung zu singen. Zwar hat das Land ein gutes Maß an formaler Demokratie erreicht, aber es gibt noch viele kritische Probleme im Zusammenhang mit der Wirtschaft und der politischen Instabilität.”

Die Konsenspolitik vor dem Hintergrund steigender Polarisierung zwischen Islamisten und Laizisten hat die tunesische Politik blockiert. Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv. Diese Rhetorik hat in DAC-Kreisen lange Tradition, ohne irgendeine Besserung der armen Bevölkerung bei den Grundbedürfnissen zu bewirken. Hinreichend für nachhaltige Transformation ist sie nicht.  Die tunesische Regierung hatte bei Nachverhandlungen mit dem IWF und anderen multilateralen Kreditgebern die Oberhand, das wussten sie laut Diwan. Kreditbedingungen wurden oft gebrochen (vor allem in Bezug auf die Lohnkosten im öffentlichen Sektor), ohne dass dies Auswirkungen auf die Auszahlungen hatte. Andererseits: Statt warmer Worte hat die EU sich nicht in der Lage gesehen, handfeste Anreize für höhere Produktivität – etwa eine Beitrittsperspektive nach dem Muster EU-Osterweiterung  – anzubieten.

 

Zum Autor:

Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die Blogs ShiftingWealth und Weltneuvermessung. Auf Twitter: @HrReisen