Thursday 4 February 2021

Tunesien: Vom Arabischen Frühling in den Covid-Winter




 Mein Beitrag wurde am 03.02.2021 vom MakronomMagazin publiziert: 

https://makronom.de/tunesien-vom-arabischen-fruehling-in-den-covid-winter-38250

Zum zehnten Jahrestag der Arabellion lieferten sich in Tunesien junge Menschen Straßenschlachten mit der Polizei. Die Menschen sind wütend und enttäuscht über die desolate Lage des Landes. „Die an der Macht sind jetzt andere, das System ist geblieben“. „Was nützt mir Pressefreiheit, wenn ich keine Arbeit habe?“, wird geklagt.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Mittel für Tunesien im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht. Herzstück des deutschen Engagements ist die Reformpartnerschaft mit Tunesien im Rahmen des Marshallplans mit Afrika. Sie wurde 2017 als bilateraler Beitrag zur G20-Initiative Compact with Africa geschlossen. Laut BMZ ist Tunesien ein politischer Hoffnungsträger in Nordafrika und nach einer langen Phase der Diktatur auf dem Weg, sich friedlich in einen Rechtsstaat umzuwandeln. Trotz politischer und sozialer Spannungen gilt die demokratische Entwicklung im Land als vorbildhaft, so das BMZ auf der offiziellen Tunesien-Seite. Die Zivilgesellschaft ist nach dem Ende des Ben Ali-Regimes gestärkt worden. „Die Zivilgesellschaften in der arabischen Welt schauen mit einigem Neid auf Tunesien“, meint etwa Isabelle Werenfels, die Tunesien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Geehrt wurden der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2015. Kurz: Tunesien ist ein Geber-Darling und in den Augen vieler „Westler“ so etwas wie ein Musterbeispiel für eine gelungene demokratische Transformation.

Zwar loben neue Analysen Tunesiens vergleichsweise guten Social Contract, sein inklusives Entwicklungsmodell. Doch Zweifel sind erlaubt, ob dies die Tunesier vor Ort auch so sehen. Gewaltsame Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei, Plünderungen von Supermärkten und Hunderte von Verhaftungen prägen derzeit die tunesischen Provinzen und Städte. Nahost-Volkswirte wie etwa Ishac Diwan haben bereits vor einiger Zeit gewarnt, dass in Tunesien Einiges aus dem Ruder läuft. Auch vor der Covid-Pandemie laugten Vetternwirtschaft und illegale Untergrundaktivitäten das Wachstum der tunesischen Wirtschaft abseits des korruptionsanfälligen Bausektors aus, eine Folge der geschwächten staatlichen Kapazität zur Durchsetzung von Recht und Gesetz. Während die öffentlichen Investitionen bei 5% des BIP schwächelten, stieg im vergangenen Jahrzehnt die öffentliche Lohnsumme von 10 auf 15% des BIP. Auch vom Anstieg der Sozialausgaben profitierten vornehmlich Beamte, nicht das arme Hinterland. Der Gini-Koeffizient blieb hoch, bei 40%.

Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland

Besonders das nahe Italien spürt die unverminderte Migrationswelle aus Tunesien. In Tunesien wird die illegale Emigration nach Europa, typischerweise mit dem Boot, gemeinhin als Harqa (arabisch für das Verbrennen der Grenze) bezeichnet. Harqa ist eine Ausstiegsstrategie derjenigen, die zu Hause eine starke Marginalisierung erfahren. Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland. Laut Migrationdataportal lag Tunesiens Wanderungsverlust (Immigration – Emigration) zwischen 2011 und 2020 bei insgesamt 170.000 . Fast 7% der tunesischen Bevölkerung (knapp 12 Millionen) leben im Ausland. Die tunesische Diaspora stützte 2020 die notorisch defizitäre Leistungsbilanz mit privaten Rücküberweisungen in Höhe von 5% des Volkseinkommens (BSP).

Die Covid-Pandemie trifft Tunesien besonders schwer

Eine Vielzahl von Problemen plagt Tunesien auch nach dem Arabischen Frühling. Einige prominente Beispiele sind die Stagnation des landesweiten Lebensstandards, die allgegenwärtige Korruption und eine überaus hohe Arbeitslosenquote. Laut IWF hat sich seit dem Arabischen Frühling der Außenwert des Dinars zum Euro halbiert, auch die Devisenreserven sanken im letzten Jahrzehnt um die Hälfte.

Natürlich hat die Covid-Pandemie Tunesien besonders getroffen, da Beschäftigung und Deviseneinnahmen stark vom Tourismus abhängen. Aber laut OECD-Analyse haben sich die Direktinvestoren seit dem Arabischen Frühling stark zurückgehalten, sodass das Land sich zu wenig von der Abhängigkeit vom Tourismus durch neue Arbeitsplätze wegdiversifizieren konnte. Die formale Beschäftigung hat sich zu wenig entwickelt, um die Jugend einzubinden und ihr eine Perspektive zu geben. Die verhältnismäßig gute Ausbildung der jungen Tunesier impliziert auch Friktionen beim Arbeitsangebot: Welche Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung werden überhaupt angenommen? Saubere Büroberufe (nicht Jobs in der industriellen Fertigung) sind das Ziel der formell gut ausgebildeten Jugend.

Wohlfeile wirtschaftspolitische Ratschläge gehen den „Hinterbänklern“ aus Washington, Paris oder Berlin leicht von der Hand[9]. Man kennt sie bis zum Abwinken:

  • arbeitsintensive Industrien fördern, am besten durch attraktive Standortbedingungen für ausländische Direktinvestitionen;
  • Subventionen für fossile Energieträger kürzen oder streichen;
  • den Staatshaushalt konsolidieren durch Kürzung des öffentlichen Konsums.

Allerdings scheinen der fiskalische Spielraum der Regierung und die Geduld der Bevölkerung ausgereizt. Die Kürzung des öffentlichen Konsums, der zur Hälfte aus Beamtengehältern besteht, würde auch die Beamten gegen die Regierung aufbringen. Höhere Energiepreise treffen die Provinz und den ärmeren Teil der Bevölkerung. Die ausländischen Direktinvestoren ziehen trotz deutlich niedrigeren politischen Gouvernanz-Noten den Standort Ägypten vor, wo der Militärkomplex die Industriepolitik bestimmt und für die Sicherheit von Direktinvestitionen bürgt. Ist die junge Bevölkerung Tunesiens zu nah an Europa und zu gut ausgebildet, als das dort das asiatische Modell der Transformation durch arbeitsintensive Industrien wirklich eine Chance hätte? So jedenfalls hört man aus Expertenkreisen vor Ort.

Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv

Kein Zweifel: Im Prinzip verfügt Tunesien über Trümpfe, und ist recht gut in globale Wertschöpfungsketten eingebunden: seine geografische Lage an der Grenze zwischen Europa und Afrika, langjährige Investitionen in die Bildung, Spezialisierung auf Zukunftsnischen, darunter der Pharma- oder Informationstechnologiebereich. Tunesiens Attraktivität leidet jedoch unter

  • den zahlreichen, oft schwerfälligen Vorschriften und Verwaltungsverfahren,
  • den Vorschriften für ausländische Investitionen, die restriktiver sind als in Ägypten und Marokko, und
  • den Verzögerungen beim Grenzübertritt (Zoll und Transportlogistik), die oft länger sind als anderswo.
  • Einige Investoren beklagten auch eine Qualifikationslücke, obwohl 28% der Hochschulabsolventen arbeitslos sind.

Eine Bemerkung des Nahostexperten Stefano Torelli vom römischen Politikinstitut ISPI (Istituto per gli studi di politica internazionale) aus dem Jahre 2017 klingt heute als Mahnung, auch für das BMZ:

„Einer der Fehler der letzten Jahre war die Tendenz der EU, das Loblied auf die tunesische Demokratisierung zu singen. Zwar hat das Land ein gutes Maß an formaler Demokratie erreicht, aber es gibt noch viele kritische Probleme im Zusammenhang mit der Wirtschaft und der politischen Instabilität.”

Die Konsenspolitik vor dem Hintergrund steigender Polarisierung zwischen Islamisten und Laizisten hat die tunesische Politik blockiert. Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv. Diese Rhetorik hat in DAC-Kreisen lange Tradition, ohne irgendeine Besserung der armen Bevölkerung bei den Grundbedürfnissen zu bewirken. Hinreichend für nachhaltige Transformation ist sie nicht.  Die tunesische Regierung hatte bei Nachverhandlungen mit dem IWF und anderen multilateralen Kreditgebern die Oberhand, das wussten sie laut Diwan. Kreditbedingungen wurden oft gebrochen (vor allem in Bezug auf die Lohnkosten im öffentlichen Sektor), ohne dass dies Auswirkungen auf die Auszahlungen hatte. Andererseits: Statt warmer Worte hat die EU sich nicht in der Lage gesehen, handfeste Anreize für höhere Produktivität – etwa eine Beitrittsperspektive nach dem Muster EU-Osterweiterung  – anzubieten.

 

Zum Autor:

Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die Blogs ShiftingWealth und Weltneuvermessung. Auf Twitter: @HrReisen

 

  

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