Thursday, 26 November 2020

Politische Zahlen: eine Fingerübung

 



Ein kluges Buch des Wissenschaftsphilosophen Oliver Schlaudt zeigt auf, wie pseudopolitische Faktenorientierung die demokratische Willensbildung unterminiert. Leistungsindikatoren und Rankings sind „politische Zahlen“, sie stehen angeblich für rationale Entscheidungsfindung. Politische Vorentscheidungen und zweifelhafte Annahmen jedoch bestimmen meist den Mechanismus, durch welchen eine zahlengläubige Gesellschaft beständig die Illusion nährt, Politik sei im Grunde überflüssig[1].

Das wird besonders sinnfällig bei internationalen Organisationen wie IMF, OECD oder Weltbank, welche den politischen Kontrollmechanismen besonders weit entrückt sind, oder bei den ins Kraut schießenden Denkfabriken, die oft intransparent finanziert sind. Solche Institutionen reiten allzu gerne ihre politische Agenda. Aus der Sicht der Principal-Agent-Theorie erschweren zwei spezifische Probleme die Kontrolle internationaler Organisationen: die lange Delegationskette vom Wähler bis hin zum Leiter der Behörde und das Common-Agency-Problem[2].

Andreas Schleicher, OECD Direktor des Direktorats für Bildung und bekannt als Gründer und Koordinator des Programm for International Student Assessment (PISA-Studien), hat einmal den Satz geprägt: „"Without data, you are just another person with an opinion". Diesen Spruch fanden viele smart. Auch ich. Bei näherer Betrachtung aber ist dieser Spruch nicht nur hochnäsig. Sondern er ist irreleitend, ja gefährlich. Denn er nährt die Illusion, dass wesentliche Fragen der Politik (nicht nur Bildungspolitik) durch ´Fakten´ bestimmt sind. So schmücken die Berater ihre Empfehlungen gerne mit dem Wort „evidenzbasiert“. Parlamente, Presse und Politiker haben sich in der Folge der Expertenherrschaft zu beugen.

Keine Frage, eine Politik welche ohne wissenschaftliche Beratung auszukommen glaubt, ist ´blinde´ Politik (wie sie oft vom 45. Präsident der USA verkörpert wurde). Die Politik hat bei der Wissenschaft eine Holschuld. Besser ist es daher, die Politik bestimmt Zweck und Ziel und befragt (hoffentlich nicht nur) die Wissenschaft nach den adäquaten Mitteln. Das andere Extrem aber ist im wirtschaftspolitischen Bereich die Ökonokratie[3]. Schlaudt listed drei Gefahren der rein science-based policy, für die ich folgende konkrete Beispiele anführen möchte:

·       Einmischung und Übergriff: Ökonomen tretten als getarnte Lobbyisten auf – Politiker ohne Mandat. Hierunter fallen Bernd Raffelhüschen (U Freiburg) oder Bert Rürup (Handelsblatt), die das Kapitaldeckungsverfahren für die Altersrente predigen. Das ist dem Umlageverfahren zwar nicht überlegen[4], würde aber ein lukratives Geschäft für Versicherungen bedeuten. Die Verquickung von Wissenschaft und Lobbyismus (oft mithilfe von Denkfabriken ) zugunsten privater Finanzierer und zulasten der gesetzlichen Rente wurde 2014 in der Satiresendung ´Die Anstalt´ plastisch erläutert[5]. Unvergessen ist der Auftritt des langjährigen Verteidigers der gesetzlichen Rente, des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm.

·       Vergeblichkeitsthese: Laut Schlaudt besteht die Gefahr, dass die Dynamik des Machbaren den Diskurs über das Wünschenswerte überrollt. Albert O. Hirschman nannte das die Vergeblichkeitsthese, eine der drei Grundfiguren reaktionären Denkens (neben der Sinnverkehrungsthese und der Gefährdungsthese)[6]. Hirschmans Vergeblichkeitsthese besagt, dass revolutionäre Ziele im Effekt vergeblich seien und die Geschichte auch so ihren Lauf nehmen würde und sich das gleiche Ergebnis – wie durch eine Art „unsichtbare Hand“ – von selbst einstelle. Als Beispiel zitiert Hirschman unter anderem Vilfredo Pareto, der unter Hinweis auf gleichförmige internationale Daten der persönlichen Einkommensverteilung meinte, Umverteilungspolitik sei aussichtslos.

·       Politiknegierung: Der aggressivste Übergriff der Ökonokratie auf die Politik beschränkt sich nicht nur auf Verdrängung der Politik, sondern negiert diese, wo die Ökonokratie ihr das Existenzrecht abspricht. Das ist in der Geldpolitik geschehen in den Ländern, die ihrer Zentralbank per Satzung, Gesetz oder gar Verfassung den Status der Unabhängigkeit gegeben haben. Dies geschah, um der angeblichen Inflationsvorliebe der Politiker zu begegnen, besonders bei Koalitionsregierungen, in Föderalstaaten und in politisch stark polarisierten Staaten[7]. Auch die urpolitische Aufgabe der Budgetpolitik wäre, ginge es nach den Vorstellungen mancher Ökonomen, der Expertenherrschaft zu unterwerfen[8].

Personalpolitisch ist das in den USA mit der Bestallung von Janet Yellen, der früheren Notenbankchefin, gerade geschehen. Die Begeisterung der führenden (keynesianischen) ´Experten´ ist einhellig und laut. Einen gegenläufigen Weg beschritt man mit der Wahl von Christine Lagarde, der früheren Finanzministerin Frankreichs, zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Die Politikerin wird gelegentlich beschuldigt, das Mandat der EZB gender- und umweltpolitisch zu überziehen.

Die Rolle von Experten im Prozess der politischen Entscheidungsfindung hat schon der Soziologe und Ökonom Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehend durchleuchtet [9]. Im Werturteilstreit mit den „Kathedersozialisten“ (Schmoller, Wagner, Knapp) argumentierte er gemeinsam mit Werner Sombart, es sei niemals Aufgabe der Erfahrungswissenschaft, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Weber sah die Gefahr, dass Experten ihre privilegierte Stellung und Medienpräsenz ausnutzen, politisch Stellung zu beziehen. Nach Weber hat die Politik das Wünschenswerte, die Wissenschaft das Machbare zum Gegenstand. Nur wenige Geisteswissenschaftler beschränken sich alllerdings auf die positive Analyse, sondern drängen sich nur zu eilfertig in die Politik und die Medien mit normativen Entwürfen.



[1] Oliver Schlaudt (2018), Die politischen Zahlen: Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt/Main: Klostermann Rote Reihe 102.

[2] Nielson, D.L. and M. J. Tierney (2003), “Delegation to International Organizations: Agency Theory and World Bank Environmental Reform”, International Organization, Vol. 57(2), S. 241–276.

[3] Der Terminus gehört zum Sprachinventar der linken pluralen Ökonomik, die sich insbesondere gegen die Dominanz neoklassischer Erklärungsansätze wehrt. Vgl. Joe Earle, Cahal Moran and Zach Ward-Perkins (2016), The econocracy: The perils of leaving economics to the experts, Manchester University Press.

[4] Robert Holzmann and Joseph E. Stiglitz (2001), New Ideas about Old Age Security: Toward Sustainable Pension Systems in the 21st Century, World Bank, Washington DC, January.

[5] Private Vorsorge einfach erklärt | Die Anstalt, ZDF, 11. März 2014.

[6] Albert O. Hirschman (1991), The Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy, Harvard University Press, Cambridge MA 1991. Deutsche Ausgabe: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Hanser, München/ Wien 1992

[7] Jakob de Haan and Sylvester Eijffinger (2016), „The Politics of Central Bank Independence”, De Nederlandsche Bank Working Paper No. 539

[8] Vgl. z.B. Barry Eichengreen, Ricardo Hausmann & Jürgen von Hagen (1999), „Reforming Budgetary Institutions in Latin America: The Case for a National Fiscal Council“, Open Economies Review Vol. 10, S. 415–442.

[9] Max Weber (1904), „Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Vol. 19.1 S. 22-87. Gleich zu Beginn stellt Weber fest: „wir sind der Meinung, daß es niemaIs Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.“ (S. 25).