Auf dem Weg zur Kanzlerin hat die Grüne Annalena Baerbock derzeit mächtig Rückenwind. Wahl-Umfragen zur Bundestagswahl 2021 bleiben für die Grünen positiv, und die öffentlich-rechtlichen Medien pusten noch dazu. Die Entwicklung der Grünen vom ursprünglichen Pazifismus der Gründergeneration zum bellizistischen Neokonservatismus (auf der Linie Albrights, Boltons, Cheneys oder Wolfowitz´) gibt Anlass zur Sorge.
Die Grünen zielen vor
allem auf die unbestrittenen eklatanten Menschenrechtsverletzungen
in China und Russland. Allerdings: Zu den Verletzungen der Menschenrechte
zum Beispiel in Ägypten, Indien, Israel, Saudi-Arabien, den Vereinigten
Arabischen Emiraten oder in den westlichen Ländern selbst hört man von den
Grünen heuer wenig[1].
Die Androhung von Sanktionen sind ein beliebter Reflex der
moralischen Entrüstung. Sucht man bei Google nach "Baerbock
Sanktionen", werden in 0,36 Sekunden ca. 76300 Ergebnisse aufgerufen. Bei
Google News sind es immerhin 15000. Zentrale
Aussagen finden sich in Baerbocks Interview mit der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung:
· Zu Russland: „Zudem gibt es ja Sanktionen als
harte Maßnahmen, aber sie werden permanent konterkariert, weil die deutsche
Bundesregierung am wichtigsten Prestigeprojekt des Kremls, der Gaspipeline Nord
Stream 2, festhält. Ich hätte schon längst Nord Stream 2 die politische
Unterstützung entzogen.“
· Zu China: „ein anderer Umgang mit autoritären
Regimen ist für mich in einer künftigen Bundesregierung eine Schlüsselfrage -
für unsere Sicherheit und unsere Werte. Wir sind gerade in einem Wettstreit der
Systeme: autoritäre Kräfte versus liberale Demokratien. Hier geht es auch um
China. Das Projekt der Neuen Seidenstraße mit seinen weltweiten
Direktinvestitionen in Infrastruktur oder Energienetze besteht nicht nur aus
Nettigkeiten. Das ist knallharte Machtpolitik.“
Zwar werden die
angedrohten Sanktionen von der Kandidatin nicht spezifiziert. Doch soll keiner
nachher sagen, man habe von nichts gewusst. Aussenminister Heiko Maas (SPD)
sprach bereits vom „Konfrontationsgeschrei“ der Grünen. Das Trommelfeuer der
Kanzlerkandidatin lässt vermuten, dass die grüne Führung sich folgenden Fragen
nicht hinreichend stellt:
1) Welche Sanktionen gegen China oder Russland sind
überhaupt wirksam? Sanktionen erleichtern zwar den Gesinnungsdruck, aber ihre
Wirksamkeit wird bezweifelt.
Eine frühere Studie des
heutigen Peterson Institute for International Economics (GC Hufbauer, JJ
Schott, KA Elliott, 1990) über Sanktionen in 115 Ländern seit 1915 fand, dass
Wirtschaftssanktionen ungeeignet waren, außenpolitische Ziele umzusetzen. Nur
bei kleinen Zielländern und bei bescheidenen Sanktionszielen konnten
Verhaltensänderungen festgestellt werden. Inzwischen zielen neben Handels- und
Investitionsverboten ´moderne´ Sanktionen auf Finanztransaktionen,
Geschäftsaktivitäten und Einzelpersonen. Daher ergibt sich aus einer analytischen
Perspektive ein Zurechnungsproblem bei Wirksamskeitstudien (Marten Smeets, WTO,
2018)[2].
Smeets bezweifelt im Hinblick auf den Iran und Russland, dass Sanktionen aus
wirtschaftlicher Sicht den Wandel bewirken können, der oft durch die
ergriffenen Strafmaßnahmen angestrebt wird. Wirtschaftssanktionen im
Allgemeinen verursachen allerdings Kosten in allen Ländern, die an den
Sanktionen beteiligt sind. Das Land, das mit den Sanktionen konfrontiert ist,
wird wahrscheinlich Handelsbeziehungen mit Drittparteien aufbauen, die nicht
Teil der Sanktionskoalition sind.
2) Wie hoch ist der Schaden von Sanktionen für Deutschland? Diese Frage kann eine Studie beantworten, die
versucht hat, die Wirkungen der Russlandsanktionen seit 2014 zu isolieren[3].
Heruntergebrochen auf einzelne Länder und Produktkategorien vergleicht sie die
hypothetische Entwicklung ohne Sanktionen mit der schwächeren tatsächlichen
Entwicklung. Die Differenz ist der Handelsverlust aufgrund der Sanktionen und
Gegensanktionen. Die Europäische Union (EU) wiederum trägt 92 Prozent. Der
Löwenanteil des Schadens der sanktionierenden Länder entfiel auf Deutschland
mit 38 Prozent oder 667 Millionen US-Dollar Handelsverlust pro Monat[4].
3) Gibt es perverse Effekte, wodurch unsere
Sanktionen die Machthaber in China, Russland etc. stärken? Julia Grauvogel vom
GIGA-Institut analysiert (IPG, 2020)[5],
dass Sanktionen gegen autoritäre Regime wie Russland eine besondere
Herausforderung darstellen. Sanktionen erweisen sich dort unter Umständen sogar
als kontraproduktiv und stärken autoritäre Regime. Die Herrschenden können
Sanktionen für ihre Zwecke instrumentalisieren, wenn es ihnen gelingt, die
Maßnahmen als Angriff auf das gesamte Land darzustellen. So kann eine
Wagenburg-Mentalität gegen den gemeinsamen äußeren Feind beschwört werden.
"Made in
Germany"-Effekte[6]
sind derweil bereits in China und Russland beobachtet worden. In China wird
nunmehr Chipautonomie als Folge der US-Sanktionen verfolgt, was die noch
führenden amerikanischen Chip-Designer schädigt und die globalen Lieferketten
durch Chipmangel trifft, etwa die Automobilindustrie. Russland hat einen Bann
auf Nahrungsmittelimporte erlassen infolge amerikanischer Sanktionen und damit
die heimische Produktion stimulieren können; gleichzeitig ist
Nahrungsmittelsicherheit in importabhängigen Staaten wieder ein heißes Thema.
4) Wie lässt sich ein
Sanktionskarussell stoppen, bevor es in einen militärischen Konflikt mutiert? Westliche
Entscheidungsträger sind regelmäßig mit der Frage konfrontiert, ob sie bisher
erfolglose Sanktionen aufrechterhalten sollen (Julia Grauvogel, IPG 2020).
Daher ist es wichtig, das mögliche Ende der Maßnahmen von Anfang an
mitzudenken. Es ist leichter, Sanktionen zu verhängen, als sie wieder
aufzuheben. Die Beendigung erfolgloser Sanktionen stellt ein außenpolitisches
Dilemma da, sie kann die Reputation der sanktionierenden Staaten beschädigen.
Klare vordefinierte Sanktionsziele mögen einen solchen Reputationsverlust
verhindern.
Die Grünen würden ihre
Konfrontationsrhetorik glaubwürdiger machen, wenn sie zunächst deutlich auf die
Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und in den westlichen Verbündeten
hinweisen würden. Solange ihre Angriffe asymmetrisch gegen autoritäre
Schwellenländer ausgerichtet bleiben, wirken die Grünen außenpolitisch als bellizistische
Neokonservative. Sie sind damit (in meiner Sicht) ein Sicherheitsrisiko für
Deutschland und Europa.
Auch die Wähler sollten
nicht alles glauben, was Grüne denken.
[1] Fortlaufende Länderberichte zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen
liefert Human Rights Watch.
[2] Marten Smeets (2018), “Can
economic sanctions be effective?”, WTO Staff Working Paper, No.
ERSD-2018-03.
[3] Matthieu Crozet, Julian Hinz (2020), “Friendly
fire: the trade impact of the Russia sanctions and counter-sanctions”, Economic Policy, Volume 35, Issue 101,
January 2020, Pages 97–146.
[4] Norbert Häring (2019), „Fast 700 Millionen US-Dollar pro Monat: Deutschland
leidet unter Russland-Sanktionen“, Handelsblatt, 11. Oktober.
[5] Julia Grauvogel (2020), „Über den (Un-)Sinn von Sanktionen“, IPG
Journal, 13. Oktober.
[6] Die Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts
als Schutz vor vermeintlich billiger und minderwertiger Importware in
Großbritannien eingeführt. Wie bekannt, wurde aus dem Stigma ein
Qualitätssiegel.