Thursday, 5 December 2024

Tom Krebs, Fehldiagnose, Westend Verlag 2024

 


Der Makroökonom Prof. Tom Krebs (Uni Mannheim) hat ein hochaktuelles Buch geschrieben. Es widmet sich der deutschen Wirtschaftskrise, die sich seit Russlands Angriff auf die Ukraine verschärft hat. Im Mittelpunkt steht zweierlei: das russische Gasembargo, welches besonders die energiehungrigen Industriebranchen Chemie, Ernährung und Vorprodukte des Fahrzeugbaus trifft (Hüther, 2022)[1]; und die ´Fehldiagnose´ einer Gruppe von neun Wirtschaftsprofessoren, welche die Folgen eines Gasembargos auf die deutsche Wirtschaft mit Hilfe eines neuen Makromodells verharmlosten (Bachmann et al., 2022)[2]. Das Modell ist für Laien eine Black Box, vor der die Medien und Politiker in Ehrfurcht erstarren sollen[3]. Das neoklassische Modell spuckt aufgrund der hohen eingebauten Elastizitäten eine geringfügige Minderung des BIP aus (zwischen 0,3 und 3%). Sekundäreffekte des Energieschocks auf Inlation und Reallöhne werden vernachlässigt. Es ist das Verdienst von Tom Krebs, die Schockterapie mitsamt den Ökonomen-Spuk zu hinterfragen.

In Wahrheit aber verlor Deutschland seit dem Ende Coronaepidemie runde vier Prozent BIP im Vergleich zur Entwicklung ohne Energiekrise. Der direkte Effekt war besonders in den energieintensiven Branchen Chemie und Metallerzeugung ausgeprägt. Trotz der eklatanten Fehldiagnose hatten die „breitbeinigen“ Auftritte von Bachmann & Co medialen Erfolg in den deutschen Medien. Agressives Marketing und selektive Wahrnehmung der Fakten dienten der Kritikimmunisierung, auch in Folgestudien mit dem vielbelächelten Titelintro „Not Even a Recession“.[4]

Die Ampelregierung konnte anfängliche Erfolge gegen die Energiekrise verbuchen, so Tom Krebs, auch gerade weil sie den russischen Gashahn entgegen der Sanktionsratschläge nicht abrupt abstellte. Sie ging allerdings wegen der FDP zunächst nicht so weit, eine Energiepreisbremse einzuführen. Folge: bröselnde Zustimmung für die Ampelparteien und Wahlerfolge der AfD.

Der Autor wirft den „Marktliberalen“ vor, die Einsichten von Karl Polanyi, John M. Keynes (und Karl Marx) zu ignorieren. Polanyi 1944 hatte die Bedeutung der Anpassungskosten im Transformationsprozess betont, welche den gesellschaftlichen Kontext struktureller Umbrüche berücksichtigen. Keynes hatte die erwartungsgetriebenen Überreaktionen in Finanz-und Energiemärkten betont, die sich negativ auf die Realwirtschaft auswirken. Preissignale verlieren dadurch ihre Wirksamkeit und können eine Energiepreisbremse rechtfertigen.[5]

Das marktliberale Dogma verkennt auch den Hysterese-Effekt von Wirtschaftskrisen; diese erklärt, warum auch Ende 2024 in Deutschland immer noch keine Erholung in Sicht ist. Der Motor der deutschen Industrie – Chemie, Metallerzeugung, KFZ-Bau - ist nachhaltig beschädigt worden. Restriktive Geldpolitik (gleichsam dem mittelalterlichen Aderlass) und prozyklische Fiskalpolitik (Schuldenbremse statt Stimulanz) haben den desolaten Zustand der deutschen Wirtschaft zusätzlich verschärft.



[1] Hüther, Michael (2022), Das Problem des subjektiven Werturteils, Wirtschaftsdienst, Heft 4.

[2] Bachmann, R., Baqaee, D., Bayer, C., Kuhn, M., Löschel, A., Moll, B., Peichl, A., Pittel, K., & Schularick, M. (2022). What if? The Economic Effects for Germany of a Stop of Energy Imports from Russia. In EconPol Policy Reports, No 36. ifo Institut München.

[3] François Geerolf (2022), The “Baqaee-Farhi approach” and a russian gas embargo, Revue de l'OFCE

2022/4 N° 17, S. 143 – 165.

[4] B. Moll, M. Schularick & G. Zachmann (2023), Not Even a Recession: The Great German Gas Debate in Retrospect, ECONtribute: Markets & Public Policy, Mai.

[5] Sebastian Dullien & Isabella Weber (2022), „Mit einem Gaspreisdeckel die Inflation bekämpfen“, Wirtschaftsdienst, Heft 3.