Thursday, 26 November 2020

Politische Zahlen: eine Fingerübung

 



Ein kluges Buch des Wissenschaftsphilosophen Oliver Schlaudt zeigt auf, wie pseudopolitische Faktenorientierung die demokratische Willensbildung unterminiert. Leistungsindikatoren und Rankings sind „politische Zahlen“, sie stehen angeblich für rationale Entscheidungsfindung. Politische Vorentscheidungen und zweifelhafte Annahmen jedoch bestimmen meist den Mechanismus, durch welchen eine zahlengläubige Gesellschaft beständig die Illusion nährt, Politik sei im Grunde überflüssig[1].

Das wird besonders sinnfällig bei internationalen Organisationen wie IMF, OECD oder Weltbank, welche den politischen Kontrollmechanismen besonders weit entrückt sind, oder bei den ins Kraut schießenden Denkfabriken, die oft intransparent finanziert sind. Solche Institutionen reiten allzu gerne ihre politische Agenda. Aus der Sicht der Principal-Agent-Theorie erschweren zwei spezifische Probleme die Kontrolle internationaler Organisationen: die lange Delegationskette vom Wähler bis hin zum Leiter der Behörde und das Common-Agency-Problem[2].

Andreas Schleicher, OECD Direktor des Direktorats für Bildung und bekannt als Gründer und Koordinator des Programm for International Student Assessment (PISA-Studien), hat einmal den Satz geprägt: „"Without data, you are just another person with an opinion". Diesen Spruch fanden viele smart. Auch ich. Bei näherer Betrachtung aber ist dieser Spruch nicht nur hochnäsig. Sondern er ist irreleitend, ja gefährlich. Denn er nährt die Illusion, dass wesentliche Fragen der Politik (nicht nur Bildungspolitik) durch ´Fakten´ bestimmt sind. So schmücken die Berater ihre Empfehlungen gerne mit dem Wort „evidenzbasiert“. Parlamente, Presse und Politiker haben sich in der Folge der Expertenherrschaft zu beugen.

Keine Frage, eine Politik welche ohne wissenschaftliche Beratung auszukommen glaubt, ist ´blinde´ Politik (wie sie oft vom 45. Präsident der USA verkörpert wurde). Die Politik hat bei der Wissenschaft eine Holschuld. Besser ist es daher, die Politik bestimmt Zweck und Ziel und befragt (hoffentlich nicht nur) die Wissenschaft nach den adäquaten Mitteln. Das andere Extrem aber ist im wirtschaftspolitischen Bereich die Ökonokratie[3]. Schlaudt listed drei Gefahren der rein science-based policy, für die ich folgende konkrete Beispiele anführen möchte:

·       Einmischung und Übergriff: Ökonomen tretten als getarnte Lobbyisten auf – Politiker ohne Mandat. Hierunter fallen Bernd Raffelhüschen (U Freiburg) oder Bert Rürup (Handelsblatt), die das Kapitaldeckungsverfahren für die Altersrente predigen. Das ist dem Umlageverfahren zwar nicht überlegen[4], würde aber ein lukratives Geschäft für Versicherungen bedeuten. Die Verquickung von Wissenschaft und Lobbyismus (oft mithilfe von Denkfabriken ) zugunsten privater Finanzierer und zulasten der gesetzlichen Rente wurde 2014 in der Satiresendung ´Die Anstalt´ plastisch erläutert[5]. Unvergessen ist der Auftritt des langjährigen Verteidigers der gesetzlichen Rente, des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm.

·       Vergeblichkeitsthese: Laut Schlaudt besteht die Gefahr, dass die Dynamik des Machbaren den Diskurs über das Wünschenswerte überrollt. Albert O. Hirschman nannte das die Vergeblichkeitsthese, eine der drei Grundfiguren reaktionären Denkens (neben der Sinnverkehrungsthese und der Gefährdungsthese)[6]. Hirschmans Vergeblichkeitsthese besagt, dass revolutionäre Ziele im Effekt vergeblich seien und die Geschichte auch so ihren Lauf nehmen würde und sich das gleiche Ergebnis – wie durch eine Art „unsichtbare Hand“ – von selbst einstelle. Als Beispiel zitiert Hirschman unter anderem Vilfredo Pareto, der unter Hinweis auf gleichförmige internationale Daten der persönlichen Einkommensverteilung meinte, Umverteilungspolitik sei aussichtslos.

·       Politiknegierung: Der aggressivste Übergriff der Ökonokratie auf die Politik beschränkt sich nicht nur auf Verdrängung der Politik, sondern negiert diese, wo die Ökonokratie ihr das Existenzrecht abspricht. Das ist in der Geldpolitik geschehen in den Ländern, die ihrer Zentralbank per Satzung, Gesetz oder gar Verfassung den Status der Unabhängigkeit gegeben haben. Dies geschah, um der angeblichen Inflationsvorliebe der Politiker zu begegnen, besonders bei Koalitionsregierungen, in Föderalstaaten und in politisch stark polarisierten Staaten[7]. Auch die urpolitische Aufgabe der Budgetpolitik wäre, ginge es nach den Vorstellungen mancher Ökonomen, der Expertenherrschaft zu unterwerfen[8].

Personalpolitisch ist das in den USA mit der Bestallung von Janet Yellen, der früheren Notenbankchefin, gerade geschehen. Die Begeisterung der führenden (keynesianischen) ´Experten´ ist einhellig und laut. Einen gegenläufigen Weg beschritt man mit der Wahl von Christine Lagarde, der früheren Finanzministerin Frankreichs, zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Die Politikerin wird gelegentlich beschuldigt, das Mandat der EZB gender- und umweltpolitisch zu überziehen.

Die Rolle von Experten im Prozess der politischen Entscheidungsfindung hat schon der Soziologe und Ökonom Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehend durchleuchtet [9]. Im Werturteilstreit mit den „Kathedersozialisten“ (Schmoller, Wagner, Knapp) argumentierte er gemeinsam mit Werner Sombart, es sei niemals Aufgabe der Erfahrungswissenschaft, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Weber sah die Gefahr, dass Experten ihre privilegierte Stellung und Medienpräsenz ausnutzen, politisch Stellung zu beziehen. Nach Weber hat die Politik das Wünschenswerte, die Wissenschaft das Machbare zum Gegenstand. Nur wenige Geisteswissenschaftler beschränken sich alllerdings auf die positive Analyse, sondern drängen sich nur zu eilfertig in die Politik und die Medien mit normativen Entwürfen.



[1] Oliver Schlaudt (2018), Die politischen Zahlen: Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt/Main: Klostermann Rote Reihe 102.

[2] Nielson, D.L. and M. J. Tierney (2003), “Delegation to International Organizations: Agency Theory and World Bank Environmental Reform”, International Organization, Vol. 57(2), S. 241–276.

[3] Der Terminus gehört zum Sprachinventar der linken pluralen Ökonomik, die sich insbesondere gegen die Dominanz neoklassischer Erklärungsansätze wehrt. Vgl. Joe Earle, Cahal Moran and Zach Ward-Perkins (2016), The econocracy: The perils of leaving economics to the experts, Manchester University Press.

[4] Robert Holzmann and Joseph E. Stiglitz (2001), New Ideas about Old Age Security: Toward Sustainable Pension Systems in the 21st Century, World Bank, Washington DC, January.

[5] Private Vorsorge einfach erklärt | Die Anstalt, ZDF, 11. März 2014.

[6] Albert O. Hirschman (1991), The Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy, Harvard University Press, Cambridge MA 1991. Deutsche Ausgabe: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Hanser, München/ Wien 1992

[7] Jakob de Haan and Sylvester Eijffinger (2016), „The Politics of Central Bank Independence”, De Nederlandsche Bank Working Paper No. 539

[8] Vgl. z.B. Barry Eichengreen, Ricardo Hausmann & Jürgen von Hagen (1999), „Reforming Budgetary Institutions in Latin America: The Case for a National Fiscal Council“, Open Economies Review Vol. 10, S. 415–442.

[9] Max Weber (1904), „Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Vol. 19.1 S. 22-87. Gleich zu Beginn stellt Weber fest: „wir sind der Meinung, daß es niemaIs Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.“ (S. 25).

Monday, 26 October 2020

Die Geschäftemacher


Auszug meines Beitrags aus dem IPG-Journal vom 26.10.2020:

https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/die-geschaeftemacher-4739/


Die Weltbank hat die Veröffentlichung ihres „Doing-Business“-Index (DB) ausgesetzt. Über diesen Index wurde das Geschäftsklima einzelner Länder bewertet und ein Attraktivitäts-Ranking für ausländische Direktinvestitionen erstellt.

Die Weltbank räumte nun „Unregelmäßigkeiten“ in ihren Daten ein. Diese könnten die Rangfolge der Schwellenländer beeinflusst haben. Die Aussetzung des Index war überfällig, wird die Verwendung von Governance-Indikatoren doch schon seit langem kritisiert. 

Auch an die Bundesregierung wurden bereits entsprechende Forderungen herangetragen (Kappel & Reisen, 2019), auf die Erhebung solcher Indikatoren  zu verzichten, wenn es um die Auswahl afrikanischer Partnerländer geht. Sie kam dieser Empfehlung bisher nicht nach; im Bundesfinanz- und im Entwicklungsministerium klammerte man sich an die ideologischen Prärogative aus Schuknecht-Zeiten. Nun ist ihr die Weltbank zuvorgekommen – sie konnte nicht mehr anders. 

Der jüngste Skandal sollte genutzt werden, um künftig einen anderen Ansatz bei den DB-Berichten zu verfolgen, bei dem – vor allem in armen Ländern – auch die Entwicklungsperspektive berücksichtigt wird. Makroökonomische Stabilität, Rechtssicherheit, die Qualität der Infrastruktur, das Bildungsniveau, die Korruption – all dies fehlt bislang im Index. Vorbilder für eine quantitative Gesamtperspektive gibt es mit dem UN-Index für menschliche Entwicklung und dem „Better Life Index“ der OECD. Die Bundesregierung sollte eigene Indikatoren entwickeln und kalibrieren, welche Deutschlands Erfahrungen mit dem Wiederaufbau nach 1948 und der Wiedervereinigung 1990 reflektieren, anstatt blind auf das Urteil der angelsächsisch geprägten Weltbank zu vertrauen.





Wednesday, 30 September 2020

Spätsommertage am Marontistrand

 Eigentlich wollten wir nach Berlin. Nach einem halben Jahr in Chatou wurden wir uns komisch. Da der Großraum Paris, unser Wohnsitz seit fast vierzig Jahren, in Deutschland als Risikozone eingestuft wurde, wollten wir über Italien nach Berlin einreisen. Auch dieser Plan zerschlug sich, die Flugroute Neapel-Berlin wies keine direkte Verbindung mehr auf.

Also hin und zurück nach Ischia. Statt Flugangst Virusangst? Italien so sicher wie Deutschland. FP2-Masken für den Flug. Dann Taxi vom Flughafen Capodichino zum Molo Beverollo. Mühsam bepackt auf das Traghetto, wo wir an Deck sitzen können (anstatt drinnen wie im Aliscafo). Wir werden belohnt: ein Schwarm Delphine begleitet unser Schiff Steuerbord.


Meersalz schlucken, schwimmen, das Mittagessen immer al fresco, Siesta, lesen. Doch es wurde etwas mehr als Strandurlaub total. Aus Urlaub wurde Kurlaub. Das Hotel, wo uns die Familie Panizza (Ugo, seine Frau, zwei Töchter und Vater sowie Mutter) einmal zur Spaghetti eingeladen hatte, wies noch kurzfristig ein Zimmer auf.


Im Hotel fühlt man sich älter als man eh schon ist. Viele ältere Gäste, die sich auch gerne dreimal zum Essen ins Hotel einsperren lassen, wo sie dann von livrierten Kellnern bedient werden. Das erklärt sich nicht nur mit dem hohen Komfort des Hotels, sondern auch mit seinen Anlagen wie Fango Packungen, Massagen, Kneipplauf und warmen Thermalpools. Meist sind die fetten Ärsche und Bäuche in dicke weiße Bademantel gehüllt. Hier kommen wir schnell auf FluchtGedanken, aber so leicht ist das nicht. Denn das Hotel am Strand liegt tief unten hinter den Bergen. (Allerdings fahren öffentliche Busse regelmäßig.) Nur zweimal nehmen wir Reißaus, um etwas durch die Insel zu schlendern oder zu wandern. Eine Alternative zum steifen Kurhotel wäre das Hotel Vittorio am westlichen Ende oder eine Wohnung bei der Trattoria Petrelle am östlichen Ende der Marontibucht.


Das opulente Frühstück nehmen wir stets kurz vor Toresschluss um 10:00 Uhr ein. Vorher vielleicht der schönste Moment des Tages: ausgiebig im warmen Meer schwimmen, dann Kuren und Kneippen in den Thermen. Erst abends tauchen wir noch einmal in die Fluten, nach Siesta und Etappenschluss der Tour de France.


Eine besondere Attraktion des Strandes, die wir ausgiebig einmal am Tag nutzen, sind die wunderbaren Restaurantbuden. Hier, fast 2km entlang der Holzstege aufgereiht, genießt man erstaunlich authentisches süditalienisches Essen. Immer begleitet von Wasser und unkompliziertem Weißwein, der auf Ischia angebaut wird. Und immer draußen, vor der Sonne geschützt durch Strohdächer. Immer mit sehr schönem Blick. Meist serviert durch gesprächige, intelligente Ischitaner. Besonders die Frauen wirken selbstbewusst und apart, weit entfernt vom weiblichen Klischeetyp des Berlusconi-Fernsehens.


Da die Temperaturen im September auf Ischia ideal sind und die Sonne nicht mehr gefährlich, ist alles vorhanden für ein einfaches gutes Leben. Hier braucht man sich keinen Sinn des Daseins auszuklügeln. Womöglich ist gerade in Covidzeiten ein ‚al fresco’ Leben in warmen Gefilden Europas erträglicher als im Norden, Osten oder Westen?




Saturday, 29 August 2020

Pfälzer Wurstsalat


 

  • 500 g Wurst(aufschnitt), zum Beispiel Lyoner und/oder Bierschinken
  • 6 Stück Gewürzgurken
  • 1 Stück große Zwiebel
  • 1 EL Schnittlauchröllchen
  • 3 EL Rapsöl
  • 3 EL Kräuteressig
  • 2 EL Sud aus dem Gewürzgurkenglas
  • 1 TL Senfkörner
  • 2 TL Senf, mittelscharf
  • 1 TL Meersalz
  • 1 Pfeffer, frisch gemahlen

 

1.       Für das Dressing die Senfkörner zusammen mit dem Meersalz und dem Pfeffer zerstoßen. Gurkensud mit Essig, Senf und den Gewürzen verrühren. Zuletzt das Öl untermischen.

 

2.       Zwiebel schälen und in feine Ringe, Wurst und Gurken in schmale Streifen schneiden. In einer Schüssel locker vermengen.

 

3.       Das Dressing und den Schnittlauch dazugeben und alles gut verrühren.

 

4.       Den Wurstsalat drei Stunden im Kühlschrank durchziehen lassen, 20 bis 30 Minuten vor dem Servieren aus dem Kühlschrank nehmen. Abschmecken und eventuell nachwürzen. Gurkensud hinzufügen, falls der Salat zu trocken ist.

 

Dazu passt ein gekühlter Rotwein oder Weisswein, etwa ein Riesling. 
Und Bier sowieso.

Sunday, 26 July 2020

Schwertfisch aus dem Ofen

Der Schwertfisch gehört neben dem Hering zu meinen Lieblingsfischen. Anders als im Fall des Lachses oder Tunfischs halten sich beim Schwertfisch die ökologischen Bedenken noch in Grenzen; ich ignore sie auch gerne. Francesco Mazzei, von dem auch diese Rezept-Anregung stammt, ortet den besten in der Meeresenge von Messina. So ist auch das schnelle Rezept sizilianischen Ursprungs.

Was braucht es für zwei Personen?
  • 350g Schwertfisch (na klar), am besten als Filets, grob zerstückelt;
  • 1 rote Zwiebel
  • ca 10 Kirschtomaten, geviertelt
  • 4 Sardellenfilets, gehackt
  • 1 Esslöffel Kapern
  • 8 Oliven, halbiert (grüne oder schwarze)
  • 25 ml gutes Olivöl
  • 1-2 Esslöffel Tomatensugo
  • je 1 Esslöffel glatte Petersilie und Basilikum
  • 1 Teelöffel getrocknetes Origano
  • 1 halbes Glas trockener Weisswein
  • wenig Meersalz und reichlich frisch gemahlener Pfeffer
  • fakultativ: Rosinen und Pinienkerne.

Alle diese Zutaten in einer ofenfesten Form mit den Händen gut durchmischen. In den vorgeheizten Ofen (200 Grad Umluft) schieben und 25 Minuten durchgaren.
Die leckere Brühe mit Landbrot oder Kartoffeln (mit Olivöl leicht zerquetscht) auftunken.
Dazu passt derselbe trockene weisse Landwein, der bereits für die Brühe verwandt wurde. 

Tuesday, 7 July 2020

Der Lentz ist noch immer zu



Erinnerung aus besseren Tagen:


Der Len(t)z am Stutti 

 

Im Lenz der langen Jahre geht der ´Greis´

schon früh, dann mittags, abends in den Lentz.

Gebildet meist, egal die Provinienz,

am Stutti, tutti frutti, bei den Preiss´.

 

Um Neun geht´s los, dem Boomer nicht zu spät,

´ne Zeitung sichern erster früher Sport,

vom Springer find´st Du nix an diesem Ort,

die Späten äugen auf ihr Wischgerät.

 

Mehr weib- als männlich ist das Personal,

am Knackpo wippt der Geldsack wie´n Colt.

Ein Hörnchen, Brötchen, Muesli, Kaffeegold,

´n Kaffee noch! Ist nicht das letzte Mal.

 

Vom Brunch zum Lunch geht´s ohne Übergang.

Der Tag wird heller, und die Sonne steigt.

Auch draußen werden sich die Alten zeigen,

die neuen Fässer rollen die Terrasse lang.

 

Der Mittagstisch gekreidet auf die schwarze Tafel;

zum Glück bleibt´s günstig, hier isst Du eklektisch.

Der Gast wird nicht geprellt und selten hektisch,

ihn stört auch kaum das Tischnachbargeschwafel.

 

Das Bier ist trunken von den alten Hasen.

Das Kölsch, es gibt´s! Jedoch zu kalt gezapft.

Kein Trunkenbold bleibt lange unterhopft.

Ganz hinten leert man altersschwache Blasen.

 

Den ersten Abendhunger stillen die Buletten,

die vollen Tische fördern den Kontakt.

Die Kneipe ist auch abends dichtgepackt.

Gesellig, laut, lang vor den Daunenbetten.

 

Und draußen regen schlanke Junggazellen

– ein Dutzend Blicke kleben gierig dran –

der Männer Fantasie noch einmal an.

Was bleibt? Ein neues frisches Glas bestellen…

 

Zu oft vermiss´ ich diesen trauten Kreis,

in Frankreich bau ich diesen Reim.

Zerrissen such´ und finde ich mein Heim

am Stutti, tutti frutti, bei den Preiss´.

 

 

Sunday, 21 June 2020

Meine OECD-Chefs: Die 1980er Jahre

Die OEEC war seit 1948 das europäische Kind des Marshallplans und die OECD seit 1961 sein nordatlantischer Enkel. Das OECD Development Centre wurde die südorientierte Spätgeburt. 1962 auf Anregung des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy[1] gegründet, sollte die halbautonome forschungsorientierte Einrichtung dem Erfahrungsaustausch und als Bindeglied zwischen den OECD-Mitgliedern und den Entwicklungsländern dienen. Trotz Angeboten durch IfW (DC), Moody´s (NYC), KfW (Ffm) und GIGA (HH) blieb ich fast 29 Jahre dem Development Centre in Paris verbunden[2].

Die OECD und das OECD Development Centre hatten  im Dezember 1983, als ich dort begann, wohl die beste Zeit hinter sich. Der letzte bei den Volkswirten hochgeschätzte Generalsekretär war Emile van Lennep. Er war Jurist, der seinem Economics Department (alle anderen Abteilungen durften sich nur Directorate nennen) gerne zuhörte. Sein keynesianisch geprägter Chefvolkswirt Stephen Marris war jemand, der sich von den damals populären Strömungen der Ökonomie (Rationale Erwartungen; Angebotstheorie) nicht anstecken ließ. Ein typisches Agenturproblem, das man bei den multilateralen Organisationen oft antraf: Der Agent scherte sich nur scheinbar um die Präferenzen seiner Mitglieder, dem Prinzipal[3]. Das konnte in Zeiten von Reagan und Thatcher nicht lange gut gehen.


Das OECD Development Centre hatte bis dato seine beste Zeit infolge des britischen Vizedirektors Prof. Ian M.D. Little[4] (†2012) erlebt, der in seiner kurzen Amtszeit (1966-68) liberale britische und indische Spitzenökonomen um sich scharte (z.B. Jagdish Bhagwati, Deepak Lal, James Mirless, Tibor Scitovsky, Maurice Scott). Zwei Studien – Manual of Industrial Project Analysis II, Social Cost Benefit Analysis (1969) und Industry and Trade in some Developing Countries (1970) – waren nachhaltig einflussreich, wenn auch umstritten, in der entwicklungsökonomischen Literatur[5]. Als ich im Dezember 1983 beim OECD Development Centre anheuerte, waren akademische Ausrichtung, Liberalismus und Exzellenz längst verflogen, die wichtigen Protagonisten in Richtung Nuffield College (Oxford U) und Weltbank gewandert.

Das Centre war also in den 1960ern marktliberal während der keynesianischen Ausrichtung der OECD; danach drehte die OECD allmählich und spät in Richtung Angebotspolitik. Das Centre kam zunehmend unter den Einfluss kleiner europäischer OECD-Länder (Tabelle 1) und geriet zunehmend in innere Opposition zur OECD, die stark von den USA und Großbritannien geprägt war.

Tabelle 1: Eine Chefin und sechs Chefs des OECD Development Centre, 1983-2012

Zeitraum

Development Centre

OECD-Generalsekretäre

Zeitraum

1983-85

Justus Faaland (†2017), N

Emile v Lennep (†1996), NL

1969-84

1985-92

Louis Emmerij (†2019), NL

Jean-Claude Paye, F

1984-94

1993-99

Jean Bonvin (†2017), CH

Don Johnston, CAN

1996-06

1999-03

Jorge Braga de Macedo, P

 

 

2003-07

Louka Katseli, Gr

José Ángel Gurría, Mex

2006-

2007-10

Javier Santiso, Esp

 

 

2010-

Mario Pezzini, I

 

 

 

Der Norweger Just Faaland, ein ehemaliger KZ-Häftling (Buchenwald 1943-45) wurde mein erster OECD-Chef; widerwillig, weil ich sehr wenig akademisch publiziert hatte bis dahin und ihm als Deutscher wohl auch suspekt war[6]. Ein Student des Nobelpreisträgers Ragnar Frisch, wurde Faaland 1949 bei der OEEC in Paris angestellt, wo unter anderem auch Angus Maddison und der spätere Nobelpreisträger Tom Schelling arbeiteten. Im Jahr 1952 wurde er zum Mitglied des Chr. Michelsen-Instituts (Bergen) berufen, wo er 28 Jahre als Direktor fungierte. Prof. Faaland hatte, bis er Präsident des OECD Development Centre wurde, etliche Länder und internationale Organisationen beraten. Für seine Beratung hinsichtlich Malaysias multiethnischer Bumiputra-Politik erhielt Tan Sri Just Faaland im Jahr 2010 den Merdeka Award.


Recht bald lernte ich durch Faalands Vermittlung den schottischen Bestsellerautor[7] des Development Centre – den „chiffrephilen“ Wirtschaftshistoriker Angus Maddison - kennen, der früher wie Faaland mit der OEEC gearbeitet hatte. Angus pendelte seitdem von seinem „electronic cottage“ in Nordfrankreich aus zwischen seinem Lehrstuhl an der Uni Groningen und der OECD in Paris, wenn er sich nicht gerade in der großen weiten Welt Daten besorgte. Als wir uns beim Mittagessen kennenlernten, stießen Faaland und Maddison mit Champagner auf den kommenden Sturz Maggie Thatchers an; ich trank dabei patzig ein Glas Milch.

Faalands Präsidentschaft beim OECD Development Centre taucht in keiner der Nachrufe noch in seiner Wiki-Seite auf. Sie war ein großes Misverständnis und schnell beendet. Der scheue, schweigsame und distanzierte Norweger verachtete die OECD und seine Botschafter, die sich gerne reden hörten aber wenig von Entwicklung verstanden. Das trug ihm zwar beim Stab viel Sympathien ein; für sein politisches Überleben bei der OECD war diese Haltung tödlich[8].

Ich selbst war für drei Jahre entsendet und sollte zum Thema „Lateinamerikas Schuldenkrise und internationaler Handel“ publizieren – konkreter wurde auch auf Nachfrage der Auftrag nicht. Fein... Nach einer ersten noch neoklassisch geprägten Fingerübung (im Stil des Exil-Ungarn Bela Balassa) entdeckte ich die augenfälligen Parallelen zwischen dem hyperinflationären Lateinamerika der 1980er mit dem Deutschland der 1920er. Der Gedanke, den noch fehlenden Doktortitel vor meiner vermeintlichen Rückkehr ins BMWi nachzuholen, reifte schnell. Da Köln rasch per Zug zu erreichen war und meine Schwester dort nahe der Uni wohnte, kontaktierte ich den Ex-Kieler Prof. Gerhard Fels beim IW, der mich an Prof. Hans Willgerodt und Ralph Anderegg ´weiterreichte´.

Ich stürzte mich förmlich auf die Nachkriegsliteratur zum deutschen Reparationsproblem. Dass das deutsche Transferproblem weitaus mehr Facetten hatte als nur das durch die Keynes/Ohlin-Debatte populär gewordene Übertragungsproblem (in Form verschlechterter terms of trade), das erfuhr ich insbesonders in den Schriften von Fritz Machlup. Wie vierzig Jahre früher die deutschen, scheiterten die Schuldentransfers etlicher Schwellenländer nicht am Dollarproblem, sondern am internen Aufbringungsproblem[9].

Da bislang besonders in Washington, DC, Lateinamerikas Schuldenproblem vornehmlich als Dollarproblem interpretiert wurde, schlug die OECD-Fassung hohe Wellen, befeuert durch William R. Cline (PIIE), Jeffrey D Sachs (Columbia U) und Vito Tanzi (IMF). Letzterer hatte als Fiskaldirektor des Währungsfonds auch ein bürokratisches Interesse an meiner Arbeit: es geriet zu meinem ganz persönlichen Tanzi-Effekt. Er lud mich zum IMF-Vortrag nach Washington ein und zum Istanbul-Kongress 1988 des International Institute of Public Finance. Es folgte 1989 eine Einladung der Weltbank, unmittelbar vor der Präsentation des Brady-Plans durch das US Treasury, in der ich der Frage nachging, wie die Industrieländer nach dem zweiten Weltkrieg ihre hohen öffentlichen Schuldenquoten ohne Krise durchhalten konnten. Der Aufsatz hat mehr als dreissig Jahre später durch die Covid-Krise wieder Aktualität gewonnen[10].


Just Faalands niederländischer Nachfolger Louis Emmerij (auch „Big Louis“) kam aus Den Haag, wo er vorher neun Jahre als Rektor des Institute of Social Studies fungiert hatte, ohne dass sich seine Ambition errfüllte, niederländischer Entwicklungsminister (wie sein PvdA-Parteifreund Jan Pronk) zu werden. Vorher hatte Big Louis sich Verdienste erworben bei der ILO, wo er 1971-76 das World Employment Program geleitet hatte. Unter Big Louis´ Führung war das Konzept der Grundbedürfnisse (basic needs) entwickelt worden, ein Vorreiter des später vom die Entwicklungsdebatte prägenden UNDP-Chef Mahbub Ul Haq entwickelten Human Development Index.

Emmerij brachte einige interessante Ökonomen ins Centre (Eliana Cardoso mit Rudi Dornbusch; Jacques Polak; Keith B. Griffin). Rudi setzte sich bei Peter Kenen dafür ein, meine Dissertation in konzentrierter Form als Princeton Study in International Finance global zu verbreiten [11]. Für Jacques Polak wurde ich der hausinterne Sparringspartner von zwei OECD-Publikationen[12].

Emmerijs Vater war 1945 im KZ Dachau ums Leben gekommen[13]. Mein Schuldenthema „your pet subject“ interessierte ihn auch nicht sonderlich. Dennoch bewunderte ich Big Louis für seine wache Intelligenz und pünktlich befristeten Arbeitszeiten. Seine feudalen Vorlieben sah ich dem Kaviar-Sozialisten nach; mittags ließ er sich mit dem Dienstwagen vom eigenen Chauffeur in den teuren Country-Club im Bois de Boulogne fahren, wo er bei gutem Wetter gerne Hof hielt.

Louis Emmerij scheint als Centre-Präsident keine nachhaltigen Spuren hinterlassen zu haben. Weder führt ihn die iLibrary der OECD auf noch das OECD Development Centre, was darauf hindeutet, dass er keine nachhaltigen Konferenzbände hinterlassen hat. Der Austritt wichtiger Mitgliedsländer aus dem OECD Development Centre, allen voran die USA und im Gefolge Japan, rühren aus seiner Zeit als Präsident.

Allerdings fällte Big Louis gute Personalentscheidungen. Er holte David Turnham zurück, den schon Ian Little als Forschungsassistent mitgebracht hatte und in der Zwischenzeit bei der Weltbank reussierte. David war einer der Ersten, die sich dem Problem der Unterbeschäftigung in den armen Ländern gewidmet hatte. Der später vielfache Großvater zeigte auch schon in den späten 1980ern mit unserem Babygirl Talent als lebendes Reitpferd. Außerdem heuerten die Professoren Christian Morisson, Jean-Claude Berthelemy und Aristomène Varoudakis an. Mit ihnen ging es langsam mit dem Centre wieder aufwärts, zumal sie auch den sympathischen Prof. François Bourgignon (später Chefökonom der Weltbank und dann Gründungsrektor PSE) einbanden.

 

 



[1] Die Gründung des OECD-Entwicklungszentrums wurde von US-Präsident John F. Kennedy in einer Rede vor dem kanadischen Parlament in Ottawa am 17. Mai 1961 vorgeschlagen: https://youtu.be/tVO4HifEqEk

[2] In Deutschland (1976-1983) hatte ich während einer recht kurzen Berufszeit als Volkswirt vier Arbeitgeber. Vgl. https://reibreisen.blogspot.com/2020/06/meine-deutschen-chefs-1976-1983.html.

[3] Bei multilateralen Organisationen erschwerte die doppelte Delegation (Wähler->Regierung->Multi) das Prinzipal-Agenten-Dilemma. Vgl. dazu z.B.  Nielson, Parks & Tierney (2017), „International organizations and development finance: introduction to the special issue”, The Review of International Organizations , Vol. 12, S. 157–169.

[4] Vgl. zur Würdigung des Ökonomen IMD Little:  C. Bliss and V. Joshi (2014). "Ian Malcolm David Little 1918–2012" (PDF). Biographical Memoirs of Fellows of the British Academy. XIII: 317–318.

[5] In seinen Erinnerungen nimmt Prof. Little wie gewohnt kein Blatt vor den Mund. Daher lesenswwert: Little (2002), „The Centre since the 1960s“, in Jorge Braga de Macedo, Colm Foy and Charles P. Oman (eds.), Development is Back, Paris: OECD Development Centre, 257-262.

[6] Die deutsche Vertretung bei der OECD hatte vergeblich auf einen hohen Posten am Centre spekuliert. Erst als sich diese Personalie zerschlug, machte sie Druck für meine Kandidatur.

[7] Unter seinen vielen OECD-Bestsellern ist das meistzitierte Angus Maddison (2006), The World Economy, Vol.1: A Millenial Perspective; Vol. 2: Historical Statistics,  Paris: OECD Development Centre.

[8] Da die OECD ihr institutionelles Gedächtnis wenig pflegt, führt sie auch keine Würdigung seiner früheren Centre- Präsidenten. Vgl. das Chr. Michelsen Institute (2017), In memory of Just Faaland , Bergen (Norwegen).

[9] Helmut Reisen (1987), Über das Transferproblem hochverschuldeter Entwicklungsländer, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Vgl. OECD-Version Helmut Reisen & Axel van Trotsenburg (1988), Developing Country Debt: The Budgetary and Transfer Problem, Paris: OECD Development Centre. Mit Axel van Trotsenburg, der bei der Weltbank eine große Karriere machte, veröffentlichte ich im selben Jahr einen ersten Aufsatz zum optimalen Währungsregime in Ostasien; vgl. Helmut Reisen & Axel van Trotsenburg (1988), „Should the Asian NICs Peg to the Yen?“, Intereconomics, vol. 23(4), pages 172-177, July.

[10] Helmut Reisen (1989), “Public Debt, North and South”, Policy Research Working Paper Series 253, The World Bank.

[11] Daraus wurde Helmut Reisen (1989), "Public Debt, External Competitiveness, And Fiscal Discipline In Developing Countries," Princeton Studies in International Economics 66, International Economics Section, Departement of Economics Princeton University.

[12] Jacques J. Polak (1989), Financial Policies and Development, Paris: OECD Development Centre;  J.J. Polak (1991), “The Changing Nature of IMF Conditionality”, OECD Working Paper No. 41.

[13] Richard Jolly (2020), „Louis Emmerij obituary“, The Guardian, 27 January. Als Deutscher wurde ich aus verständlichen Gründen von Big Louis recht kühl behandelt, wie vorher von Just Faaland.