Ein kluges Buch des
Wissenschaftsphilosophen Oliver Schlaudt
zeigt auf, wie pseudopolitische Faktenorientierung die demokratische
Willensbildung unterminiert. Leistungsindikatoren und Rankings sind „politische
Zahlen“, sie stehen angeblich für rationale Entscheidungsfindung. Politische
Vorentscheidungen und zweifelhafte Annahmen jedoch bestimmen meist den
Mechanismus, durch welchen eine zahlengläubige Gesellschaft beständig die
Illusion nährt, Politik sei im Grunde überflüssig[1].
Das wird besonders
sinnfällig bei internationalen Organisationen wie IMF, OECD oder Weltbank,
welche den politischen Kontrollmechanismen besonders weit entrückt sind, oder
bei den ins Kraut schießenden Denkfabriken, die oft intransparent finanziert sind.
Solche Institutionen reiten allzu gerne ihre politische Agenda. Aus der Sicht
der Principal-Agent-Theorie erschweren zwei spezifische Probleme die Kontrolle
internationaler Organisationen: die lange Delegationskette vom Wähler bis hin
zum Leiter der Behörde und das Common-Agency-Problem[2].
Andreas Schleicher, OECD Direktor des Direktorats für Bildung und
bekannt als Gründer und Koordinator des Programm for International Student
Assessment (PISA-Studien), hat einmal den Satz geprägt: „"Without data,
you are just another person with an opinion". Diesen Spruch fanden viele
smart. Auch ich. Bei näherer Betrachtung aber ist dieser Spruch nicht nur
hochnäsig. Sondern er ist irreleitend, ja gefährlich. Denn er nährt die
Illusion, dass wesentliche Fragen der Politik (nicht nur Bildungspolitik) durch
´Fakten´ bestimmt sind. So schmücken die Berater ihre Empfehlungen gerne mit
dem Wort „evidenzbasiert“. Parlamente, Presse und Politiker haben sich in der Folge der Expertenherrschaft zu beugen.
Keine Frage, eine Politik
welche ohne wissenschaftliche Beratung auszukommen glaubt, ist ´blinde´ Politik
(wie sie oft vom 45. Präsident der USA verkörpert wurde). Die Politik hat bei
der Wissenschaft eine Holschuld. Besser ist es daher, die Politik bestimmt
Zweck und Ziel und befragt (hoffentlich nicht nur) die Wissenschaft nach den
adäquaten Mitteln. Das andere Extrem aber ist im wirtschaftspolitischen Bereich
die Ökonokratie[3].
Schlaudt listed drei Gefahren der rein science-based
policy, für die ich folgende konkrete Beispiele anführen möchte:
· Einmischung
und Übergriff: Ökonomen tretten
als getarnte Lobbyisten auf – Politiker ohne Mandat. Hierunter fallen Bernd Raffelhüschen (U Freiburg) oder
Bert Rürup (Handelsblatt), die das Kapitaldeckungsverfahren für die Altersrente
predigen. Das ist dem Umlageverfahren zwar nicht überlegen[4],
würde aber ein lukratives Geschäft für Versicherungen bedeuten. Die Verquickung
von Wissenschaft und Lobbyismus (oft mithilfe von Denkfabriken ) zugunsten
privater Finanzierer und zulasten der gesetzlichen Rente wurde 2014 in der
Satiresendung ´Die Anstalt´ plastisch erläutert[5].
Unvergessen ist der Auftritt des langjährigen Verteidigers der gesetzlichen
Rente, des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm.
· Vergeblichkeitsthese: Laut Schlaudt besteht die Gefahr, dass die
Dynamik des Machbaren den Diskurs über das Wünschenswerte überrollt. Albert O. Hirschman nannte das die Vergeblichkeitsthese,
eine der drei Grundfiguren reaktionären Denkens (neben der Sinnverkehrungsthese
und der Gefährdungsthese)[6].
Hirschmans Vergeblichkeitsthese besagt, dass revolutionäre Ziele im Effekt
vergeblich seien und die Geschichte auch so ihren Lauf nehmen würde und sich
das gleiche Ergebnis – wie durch eine Art „unsichtbare Hand“ – von selbst
einstelle. Als Beispiel zitiert Hirschman unter anderem Vilfredo Pareto, der unter Hinweis auf gleichförmige internationale
Daten der persönlichen Einkommensverteilung meinte, Umverteilungspolitik sei
aussichtslos.
· Politiknegierung: Der aggressivste Übergriff der Ökonokratie auf
die Politik beschränkt sich nicht nur auf Verdrängung der Politik, sondern
negiert diese, wo die Ökonokratie ihr das Existenzrecht abspricht. Das ist in
der Geldpolitik geschehen in den Ländern, die ihrer Zentralbank per Satzung,
Gesetz oder gar Verfassung den Status der Unabhängigkeit gegeben haben. Dies
geschah, um der angeblichen Inflationsvorliebe der Politiker zu begegnen,
besonders bei Koalitionsregierungen, in Föderalstaaten und in politisch stark
polarisierten Staaten[7].
Auch die urpolitische Aufgabe der Budgetpolitik wäre, ginge es nach den
Vorstellungen mancher Ökonomen, der Expertenherrschaft zu unterwerfen[8].
Personalpolitisch ist das in den USA mit der Bestallung von Janet Yellen, der früheren
Notenbankchefin, gerade geschehen. Die Begeisterung der führenden (keynesianischen)
´Experten´ ist einhellig und laut. Einen gegenläufigen Weg beschritt man mit der Wahl von
Christine Lagarde, der früheren Finanzministerin Frankreichs, zur Präsidentin der
Europäischen Zentralbank. Die Politikerin wird gelegentlich beschuldigt, das Mandat
der EZB gender- und umweltpolitisch zu überziehen.
Die Rolle von Experten im
Prozess der politischen Entscheidungsfindung hat schon der Soziologe und Ökonom Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts
eingehend durchleuchtet [9]. Im
Werturteilstreit mit den „Kathedersozialisten“ (Schmoller, Wagner, Knapp)
argumentierte er gemeinsam mit Werner
Sombart, es sei niemals Aufgabe der Erfahrungswissenschaft, bindende Normen
und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.
Weber sah die Gefahr, dass Experten ihre privilegierte Stellung und
Medienpräsenz ausnutzen, politisch Stellung zu beziehen. Nach Weber hat die
Politik das Wünschenswerte, die Wissenschaft das Machbare zum Gegenstand. Nur
wenige Geisteswissenschaftler beschränken sich alllerdings auf die positive
Analyse, sondern drängen sich nur zu eilfertig in die Politik und die Medien
mit normativen Entwürfen.
[1] Oliver Schlaudt (2018), Die
politischen Zahlen: Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt/Main: Klostermann Rote Reihe 102.
[2] Nielson, D.L. and M. J. Tierney (2003), “Delegation
to International Organizations: Agency Theory and World Bank Environmental
Reform”, International Organization,
Vol. 57(2), S. 241–276.
[3] Der Terminus gehört zum Sprachinventar der linken pluralen Ökonomik, die
sich insbesondere gegen die Dominanz neoklassischer Erklärungsansätze wehrt. Vgl. Joe Earle, Cahal Moran and Zach Ward-Perkins (2016), The econocracy: The perils of leaving
economics to the experts, Manchester University Press.
[4] Robert Holzmann and Joseph E. Stiglitz (2001), New Ideas about Old Age Security: Toward Sustainable Pension Systems in
the 21st Century, World Bank,
Washington DC, January.
[5] Private Vorsorge einfach erklärt | Die Anstalt, ZDF, 11. März
2014.
[6] Albert O. Hirschman (1991), The
Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy, Harvard University
Press, Cambridge MA 1991. Deutsche
Ausgabe: Denken gegen die Zukunft. Die
Rhetorik der Reaktion, Hanser, München/ Wien 1992
[7] Jakob de Haan and Sylvester Eijffinger (2016), „The Politics
of Central Bank Independence”, De
Nederlandsche Bank Working Paper No. 539
[8] Vgl. z.B. Barry Eichengreen, Ricardo Hausmann & Jürgen von
Hagen (1999), „Reforming Budgetary Institutions in Latin America: The Case for
a National Fiscal Council“, Open
Economies Review Vol. 10, S. 415–442.
[9] Max Weber (1904), „Die "Objektivität"
sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Vol. 19.1 S. 22-87. Gleich zu Beginn
stellt Weber fest: „wir sind der Meinung, daß es niemaIs Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft
sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis
Rezepte ableiten zu können.“ (S. 25).