Gefährdet der deutsche „Lockdown“ Millionen Kinder auf der ganzen Welt? Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hatte Ende April provoziert: „Der Shutdown, wie wir ihn betreiben, versucht das Leben hochaltriger, schwer kranker Menschen in den reichen Ländern zu verlängern und kostet eine viel größere Zahl von Kindern in armen Ländern das Leben.“
Stimmt das?
So lebhaft die allgemeine Empörung über Palmers These auch war, so ist der Zusammenhang „Lockdown hier, tote Kinder dort“ prima facie nicht von der Hand zu weisen. Immerhin ist Deutschland ein wichtiger Teil der globalisierten Wirtschaft, eng verflochten im Welthandel und eine wichtige Gebernation. Und dass Kindersterblichkeit weiterhin ein großes Problem für die internationale Staatengemeinschaft ist, lässt sich beispielsweise an den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) ablesen. Die SDGs sind politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen (UN), welche weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. Und insbesondere das Ziel 3.2. – die Reduktion der globalen Kindersterblichkeit bis 2030 auf maximal 2,5% aller Neugeborenen fünf Jahre nach Geburt – war bereits vor der Covid-Pandemie weit vor der 2016 in Kraft getretenen Zielmarke entfernt.
Doch eine nähere Spurensuche erweist (ohne Bezug auf die zweifelhafte Moral seiner Behauptung): Palmers These ist falsch, und zwar in mehreren Dimensionen.
1.
Palmer beruft sich auf ein neues UN-Papier vom April dieses Jahres. Die Autoren des Papiers präsentieren jedoch keine empirische Evidenz und stellen auch selbst fest, dass dies erst später möglich sein wird. Hinzu kommt: Die in der Untersuchung angeführten Vermutungen über den Zusammenhang von Covid-19 und einer pandemiebedingten Übersterblichkeit von Kindern in armen Ländern beschränken sich auf drei Wirkungskanäle, die auch durchaus plausibel sind: eine erhöhte Anfälligkeit für morbide Virusinfektionen, eine Überlastung der lokalen Gesundheitssysteme sowie die Gefährdung der UN-Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung. Aber: Im UN-Dokument ist keine Rede vom Lockdown, er wird sogar empfohlen (S.15)!
2.
Weder Palmer noch die UN-Studie erwähnen explizit die sogenannte Armutselastizität in den Entwicklungsländern in Abhängigkeit vom Wachstum der reichen Länder (oder nur Deutschlands) explizit. Die Wirkungskette wäre indirekt: Die Stringenz des Lockdowns reduziert das BIP in den reichen Ländern, wovon das BIP-Wachstum in den armen Ländern abhängt. In den armen Ländern determiniert die Armutselastizität wiederum die Kindersterblichkeit, zumindest unterhalb einer gewissen Einkommensschwelle. Die Armutselastizität des Wachstums in den Entwicklungsländern hängt aber noch enger von der dortigen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen ab. Hätte Palmer die drei Jahre alte Studie des prominenten afrikanischen Ökonomen Augustin Fosu gelesen, hätte er das wissen können.
3.
Lockdowns zur Eindämmung der Virusverbreitung haben sofortige und dramatische Auswirkungen auf die tägliche Wirtschaftsaktivität. Die Auswirkungen auf das BIP werden davon abhängen, wie lange die Abriegelungen andauern und wie stringent sie sind. Zur Veranschaulichung: Eine zwei- bis dreimonatige Krise mit einer fünfwöchigen nationalen „Spitzenstrenge”, die das BIP täglich um 20% reduziert, würde sich in einem Rückgang des vierteljährlichen BIP um 7% bis 8% niederschlagen, schätzte unlängst die Ratingagentur Fitch. Allerdings sind Lockdowns und veränderte Konsumgewohnheiten nicht leicht zu trennen: So erlebt auch Schweden einen dramatischen Einbruch trotz liberaler Covid-Politik. Ökonomen an der Universität Kopenhagen haben festgestellt, dass Lockdowns nur geringe Auswirkungen auf die Konsumgewohnheiten der Verbraucher hatten und dass der wahre Dämpfer der Kaufaktivität das Coronavirus selbst ist.
4.
Was für die Volksgesundheit das Präventionsparadox ist, entspricht in der verflochtenen Weltwirtschaft dem Globalen Öffentlichen Gut: Eine präventive Maßnahme, die für Bevölkerung und Gemeinschaften einen hohen Nutzen hat, bringt dem einzelnen Menschen oft nur wenig – und umgekehrt. Historische Erkenntnisse über die Spanische Grippe von 1918, die von der Federal Reserve Bank of New York analysiert wurden, zeigen, dass jene US-Städte, die danach ein anhaltend höheres Beschäftigungswachstum in der verarbeitenden Industrie verzeichneten, auch eine geringere Sterblichkeitsrate aufgrund der Epidemie aufwiesen sowie stärkere Interventionen im öffentlichen Gesundheitswesen in Form von sozialer Distanzierung, Quarantäne und Abriegelung einführten. Strikte Präventionsmaßnahmen haben einen hohen gesundheitlichen Nutzen für die Gesamtbevölkerung, schädigen aber individuelle Interessen. Daher rebelliert eine Minderheit gegen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die paradoxerweise in ihrem Eigeninteresse zu akzeptieren sind.
Die Spurensuche ergibt also, dass Boris Palmer die UN-Studie unsauber zitiert hat, wichtige Wirkungszusammenhänge von unseren Präventionsmaßnahmen hin zur Kindersterblichkeit in den ärmsten Ländern unterschlägt und das Präventionsparadox ignoriert. Palmer lag mit seiner Provokation falsch, nicht nur moralisch. Denn in der Pandemie sind strikte Präventionsmaßnahmen letztlich für die Wirtschaft hierzulande und anderswo noch der am wenigsten schädlichste Weg.
Publiziert am 25. Mai 2020: