Wednesday, 5 May 2021

Annalena Baerbock und die Sanktionen



 

Auf dem Weg zur Kanzlerin hat die Grüne Annalena Baerbock derzeit mächtig Rückenwind. Wahl-Umfragen zur Bundestagswahl 2021 bleiben für die Grünen positiv, und die öffentlich-rechtlichen Medien pusten noch dazu. Die Entwicklung der Grünen vom ursprünglichen Pazifismus der Gründergeneration zum bellizistischen Neokonservatismus (auf der Linie Albrights, Boltons, Cheneys oder Wolfowitz´) gibt Anlass zur Sorge.

Die Grünen zielen vor allem auf die unbestrittenen eklatanten Menschenrechtsverletzungen in China und Russland. Allerdings: Zu den Verletzungen der Menschenrechte zum Beispiel in Ägypten, Indien, Israel, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in den westlichen Ländern selbst hört man von den Grünen heuer wenig[1].

Die Androhung von Sanktionen sind ein beliebter Reflex der moralischen Entrüstung. Sucht man bei Google nach "Baerbock Sanktionen", werden in 0,36 Sekunden ca. 76300 Ergebnisse aufgerufen. Bei Google News sind es immerhin 15000.  Zentrale Aussagen finden sich in Baerbocks Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:

·       Zu Russland: „Zudem gibt es ja Sanktionen als harte Maßnahmen, aber sie werden permanent konterkariert, weil die deutsche Bundesregierung am wichtigsten Prestigeprojekt des Kremls, der Gaspipeline Nord Stream 2, festhält. Ich hätte schon längst Nord Stream 2 die politische Unterstützung entzogen.“

·       Zu China: „ein anderer Umgang mit autoritären Regimen ist für mich in einer künftigen Bundesregierung eine Schlüsselfrage - für unsere Sicherheit und unsere Werte. Wir sind gerade in einem Wettstreit der Systeme: autoritäre Kräfte versus liberale Demokratien. Hier geht es auch um China. Das Projekt der Neuen Seidenstraße mit seinen weltweiten Direktinvestitionen in Infrastruktur oder Energienetze besteht nicht nur aus Nettigkeiten. Das ist knallharte Machtpolitik.“

Zwar werden die angedrohten Sanktionen von der Kandidatin nicht spezifiziert. Doch soll keiner nachher sagen, man habe von nichts gewusst. Aussenminister Heiko Maas (SPD) sprach bereits vom „Konfrontationsgeschrei“ der Grünen. Das Trommelfeuer der Kanzlerkandidatin lässt vermuten, dass die grüne Führung sich folgenden Fragen nicht hinreichend stellt:

1)  Welche Sanktionen gegen China oder Russland sind überhaupt wirksam? Sanktionen erleichtern zwar den Gesinnungsdruck, aber ihre Wirksamkeit wird bezweifelt.

Eine frühere Studie des heutigen Peterson Institute for International Economics (GC Hufbauer, JJ Schott, KA Elliott, 1990) über Sanktionen in 115 Ländern seit 1915 fand, dass Wirtschaftssanktionen ungeeignet waren, außenpolitische Ziele umzusetzen. Nur bei kleinen Zielländern und bei bescheidenen Sanktionszielen konnten Verhaltensänderungen festgestellt werden. Inzwischen zielen neben Handels- und Investitionsverboten ´moderne´ Sanktionen auf Finanztransaktionen, Geschäftsaktivitäten und Einzelpersonen. Daher ergibt sich aus einer analytischen Perspektive ein Zurechnungsproblem bei Wirksamskeitstudien (Marten Smeets, WTO, 2018)[2]. Smeets bezweifelt im Hinblick auf den Iran und Russland, dass Sanktionen aus wirtschaftlicher Sicht den Wandel bewirken können, der oft durch die ergriffenen Strafmaßnahmen angestrebt wird. Wirtschaftssanktionen im Allgemeinen verursachen allerdings Kosten in allen Ländern, die an den Sanktionen beteiligt sind. Das Land, das mit den Sanktionen konfrontiert ist, wird wahrscheinlich Handelsbeziehungen mit Drittparteien aufbauen, die nicht Teil der Sanktionskoalition sind.

2)  Wie hoch ist der Schaden von Sanktionen für Deutschland?  Diese Frage kann eine Studie beantworten, die versucht hat, die Wirkungen der Russlandsanktionen seit 2014 zu isolieren[3]. Heruntergebrochen auf einzelne Länder und Produktkategorien vergleicht sie die hypothetische Entwicklung ohne Sanktionen mit der schwächeren tatsächlichen Entwicklung. Die Differenz ist der Handelsverlust aufgrund der Sanktionen und Gegensanktionen. Die Europäische Union (EU) wiederum trägt 92 Prozent. Der Löwenanteil des Schadens der sanktionierenden Länder entfiel auf Deutschland mit 38 Prozent oder 667 Millionen US-Dollar Handelsverlust pro Monat[4].

3)  Gibt es perverse Effekte, wodurch unsere Sanktionen die Machthaber in China, Russland etc. stärken? Julia Grauvogel vom GIGA-Institut analysiert (IPG, 2020)[5], dass Sanktionen gegen autoritäre Regime wie Russland eine besondere Herausforderung darstellen. Sanktionen erweisen sich dort unter Umständen sogar als kontraproduktiv und stärken autoritäre Regime. Die Herrschenden können Sanktionen für ihre Zwecke instrumentalisieren, wenn es ihnen gelingt, die Maßnahmen als Angriff auf das gesamte Land darzustellen. So kann eine Wagenburg-Mentalität gegen den gemeinsamen äußeren Feind beschwört werden.

"Made in Germany"-Effekte[6] sind derweil bereits in China und Russland beobachtet worden. In China wird nunmehr Chipautonomie als Folge der US-Sanktionen verfolgt, was die noch führenden amerikanischen Chip-Designer schädigt und die globalen Lieferketten durch Chipmangel trifft, etwa die Automobilindustrie. Russland hat einen Bann auf Nahrungsmittelimporte erlassen infolge amerikanischer Sanktionen und damit die heimische Produktion stimulieren können; gleichzeitig ist Nahrungsmittelsicherheit in importabhängigen Staaten wieder ein heißes Thema.

4) Wie lässt sich ein Sanktionskarussell stoppen, bevor es in einen militärischen Konflikt mutiert? Westliche Entscheidungsträger sind regelmäßig mit der Frage konfrontiert, ob sie bisher erfolglose Sanktionen aufrechterhalten sollen (Julia Grauvogel, IPG 2020). Daher ist es wichtig, das mögliche Ende der Maßnahmen von Anfang an mitzudenken. Es ist leichter, Sanktionen zu verhängen, als sie wieder aufzuheben. Die Beendigung erfolgloser Sanktionen stellt ein außenpolitisches Dilemma da, sie kann die Reputation der sanktionierenden Staaten beschädigen. Klare vordefinierte Sanktionsziele mögen einen solchen Reputationsverlust verhindern.

Die Grünen würden ihre Konfrontationsrhetorik glaubwürdiger machen, wenn sie zunächst deutlich auf die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und in den westlichen Verbündeten hinweisen würden. Solange ihre Angriffe asymmetrisch gegen autoritäre Schwellenländer ausgerichtet bleiben, wirken die Grünen außenpolitisch als bellizistische Neokonservative. Sie sind damit (in meiner Sicht) ein Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa.

Auch die Wähler sollten nicht alles glauben, was Grüne denken.

 



[1] Fortlaufende Länderberichte zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen liefert Human Rights Watch.

[2] Marten Smeets (2018), “Can economic sanctions be effective?”, WTO Staff Working Paper, No. ERSD-2018-03.

[3] Matthieu Crozet, Julian Hinz (2020), “Friendly fire: the trade impact of the Russia sanctions and counter-sanctions”, Economic Policy, Volume 35, Issue 101, January 2020, Pages 97–146.

[4] Norbert Häring (2019), „Fast 700 Millionen US-Dollar pro Monat: Deutschland leidet unter Russland-Sanktionen“, Handelsblatt, 11. Oktober.

[5] Julia Grauvogel (2020), „Über den (Un-)Sinn von Sanktionen“, IPG Journal, 13. Oktober.

[6] Die Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Schutz vor vermeintlich billiger und minderwertiger Importware in Großbritannien eingeführt. Wie bekannt, wurde aus dem Stigma ein Qualitätssiegel.

Saturday, 17 April 2021

Wenn etwas leicht


 GOTTFRIED BENN

Wenn etwas leicht

Wenn etwas leicht und rauschend um dich ist
wie die Glycinienpracht an dieser Mauer,
dann ist die Stunde jener Trauer,
daß du nicht reich und unerschöpflich bist.

Nicht wie die Blüte oder wie das Licht:
in Strahlen kommend, sich verwandelnd,
an ähnlichen Gebilden handelnd,
die alle nur der eine Rausch verflicht,

der eine Samt, auf dem die Dinge ruh’n
so strömend und so unzerspalten,
die Grenze zieh’n, die Stunden halten
und nichts in jener Trauer tun.

Sunday, 7 March 2021

Wie sich die Corona-Schulden entsorgen lassen

 Publiziert in MakronomMagazin, 4. März 2021 

https://makronom.de/wie-sich-die-corona-schulden-entsorgen-lassen-38585


Wie andere Pandemien vor ihr wird auch die derzeitige Corona-Pandemie irgendwann enden – entweder „medizinisch“ oder „sozial“. Das medizinische Ende tritt ein, wenn die Zahl der Erkrankten stark zurück geht. Das soziale Ende findet vor allem in den Köpfen der Menschen statt. Es tritt ein, wenn die Angst vor der Krankheit abnimmt, die Menschen die Einschränkungen nicht mehr hinnehmen wollen – und lernen, mit der Krankheit zu leben.

Wann dies der Fall sein wird, ist jedoch bisher nicht absehbar. Gleiches gilt auch für den wirtschaftspolitischen Kurs, der sich mit den Nachwehen der Krise beschäftigen werden muss. In Deutschland ist der öffentliche Streit um die Corona-Pandemie seit geraumer Zeit sehr vergiftet, und dies gilt zunehmend leider auch für die wirtschaftspolitischen Debatten. So scheinen inzwischen offenbar auch Invektiven mit Angriffen ad hominem in der vorgeblich seriösen Tagespresse in Bezug auf die Finanzierung der Pandemie-Maßnahmen akzeptabel zu sein. Dieser Beitrag soll helfen, in der Debatte einen kühlen Kopf zu bewahren, indem die verschiedenen Optionen zum Umgang mit den Staatsschulden aufgezeigt werden.

Historische Lehren

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Virus, und in der Folge die staatliche Unterstützung, wirkten gleichsam als exogener Schock auf die Staatsverschuldung. Die Pandemie wird hohe Staatsschulden hinterlassen, dafür gibt es auch historische Hinweise. Die letzten 100 Jahre haben uns genug Anschauungsmaterial geliefert, wie hochverschuldete Staaten auf einen Schuldenabbaupfad zurückfinden könnten.

Auch die Weltwirtschaftskrise 1929-33, die Weltkriege des 20. Jahrhunderts sowie die Weltfinanzkrise der Jahre 2007-09 waren exogene Schocks, in deren Folge es hohe Staatschuldenquoten in den fortgeschrittenen Ländern gab. Der monetäre Volcker-Schock der US-Notenbank Federal Reserve blähte in den 1980ern via Dollar, Rohstoffpreisen und Zinsen die Staatsschulden der Schwellenländer auf. Hohe Staatsschulden waren dort auch endogener Natur, etwa die Folge bilanzieller Währungsinkongruenzen oder verlustreicher Staatsunternehmen.

Drei bemerkenswerte Perioden öffentlicher Entschuldung lassen sich laut Eichengreen et al. in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1970er Jahre erkennen. Der Mittelwert der Staatsschulden erreichte oft etwa 150% des BIP, bevor er auf einen Wert von rund 40% gesenkt wurde. Was waren die Haupttreiber dieser Erosion?

  • Die erwähnte Studie von Eichengreen et al. beschreibt drei erfolgreiche Episoden der Schuldenkonsolidierung vor dem Ersten Weltkrieg: Großbritannien nach den Napoleonischen Kriegen, die Vereinigten Staaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und Frankreich in den Jahrzehnten vor 1913. Die Napoleonischen Kriege, der Deutsch-Französische Krieg und der US-Bürgerkrieg waren die drei teuersten militärischen Konflikte des 19. Jahrhunderts, mit der Folge schuldenfinanzierter Kriegsausgaben. Die Entschuldung nach diesen Kriegen vollzog sich angesichts positiver Zins-Wachstumsdifferenzen (die Zinsen waren höher als das Wachstum) in allen drei Staaten vornehmlich durch Primärüberschüsse.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg fielen die Schuldenquoten in den entwickelten Volkswirtschaften rapide ab. Sie erreichten in den 1960er Jahren das Niveau aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Ursache hierfür waren in erster Linie jedoch nicht Budgetüberschüsse, sondern die rapide Expansion des nominalen BIP. Der Boom der Nachkriegszeit hatte verschiedene Etiketten: Erhards „Wirtschaftswunderjahre“ in Deutschland, „Les Trente Glorieuses“ in Frankreich, „Il Boom Economico“ in Italien. Im Falle Deutschlands drückten auch die Schuldenerlasse von 1948 und 1953 durch die alliierten Siegermächte die Schuldenquote.
  • Zum Ende des 20. Jahrhunderts reduzierten sich die Staatsschuldenquoten in den ärmsten Ländern rapide und blieben zunächst auf recht niedrigem Niveau. Wesentliche Ursache: die HIPC-Initiative der Bretton-Woods-Schwestern von 1996 zu Gunsten von meist afrikanischer Niedrigeinkommensländern. Diese hatten nicht vom Brady-Plan von 1989 profitiert, der vornehmlich lateinamerikanische Schwellenländer entschuldet hatte.

Heute, nach einem Jahr Covid-Pandemie, wird das Maastricht-Kriterium einer Obergrenze von 60% für die Schuldenstandquote vor allem in Lateineuropa krass verfehlt. Wie können die hochverschuldeten EU-Staaten von ihren Covid-Schulden runterkommen? Und: Macht das überhaupt Sinn bei den derzeitigen Zins- „Kosten“, die nahe oder gelegentlich unter null liegen?

Schuldendynamik

Staatsschulden in Prozent des BIP sinken nur, wenn das nominale BIP-Wachstum die Zinsen übersteigt und nicht vom zinsbereinigten Haushaltsdefizit (Primärdefizit) kompensiert wird. Im (ersten) Covid-Jahr 2020 schnellte die Staatsschuldenquote trotz massiver EU-Unterstützung besonders in Lateineuropa hoch, das unter dem Ausfall des Tourismus zusätzlich gelitten hat.

Der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB und die nationalen Zentralbanken ist im Großen und Ganzen also gleichbedeutend mit einem Schuldenerlass für den Staat

2020 war das Verhältnis von Wachstum zu Zinsen aufgrund der Covid-Rezession natürlich denkbar ungünstig. Doch wenn sich die Euro-Staaten im laufenden Jahr konjunkturell erholen, wird sich dieses Verhältnis umkehren. Zum einen sind die Marktzinsen derzeit noch negativ oder sehr niedrig, zum anderen müssen die Regierungen de facto keine Zinsen mehr für ihre ausstehenden, vom Eurosystem gehaltenen Anleihen zahlen: Der Staat zahlt Zinsen an die Zentralbank, die nun die Anleihen hält, aber die Zentralbank gibt diese Zinseinnahmen in der Regel an den Staat zurück. Der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB und die nationalen Zentralbanken ist im Großen und Ganzen also gleichbedeutend mit einem Schuldenerlass für den Staat.

Schuldenerlass

Unter der Führung Thomas Pikettys haben über 100 Ökonomen einen Schuldenerlass vorgeschlagen. Sie argumentieren, dass dieser es den Regierungen ermöglicht, unbelastet von alten Schulden neue Schulden zur Finanzierung großer Projekte zu begeben. Dabei beziehen sich die Unterzeichner auch auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953, einem radikalen Plan zur Streichung der Hälfte der deutschen Auslandsschulden und zur Schaffung großzügiger Rückzahlungsbedingungen für die verbleibenden Schulden. Das Abkommen kurbelte Deutschlands Wirtschaftswachstum an, indem es fiskalischen Spielraum für öffentliche Investitionen schuf, die Kosten der Kreditaufnahme senkte und die Inflation stabilisierte.

Allerdings ist die Vorstellung, dass ein selektiver Ausfall der von der EZB gehaltenen Schulden ohne Folgen bliebe, unrealistisch. Eine solche Entscheidung hätte zumindest den Effekt, dass der heute von der EZB angebotene Schirm geschlossen würde und die Kosten für eine erneute Verschuldung oder Refinanzierung der verbleibenden Schulden steigen würden. Ein auf einzelne Länder begrenzter Schuldenerlass schließt sich auch wegen der unmittelbaren Ansteckungseffekte aus. Schließlich wäre der Nutzen einer Repudiation aus rein buchhalterischer Sicht kurzfristig gleich null: Die von der EZB zurückgekauften Schulden wurden nämlich von den Zentralbanken des Eurosystems erworben, die die ihr zufließenden Einnahmen an ihre Finanzminister weiterverleihen.

Inflation

Solange die EZB am Inflationsziel von 2% festhält (und keine mittelfristigen Überschreitungen zulässt), muss sie bei Verfehlung des Ziels das Basisgeld M0 reduzieren. Die EZB verkauft entweder Staatsanleihen oder eigene verzinsliche Anleihen und nimmt damit die Seigniorage zurück, die sie der Regierung beim Kauf der Anleihen gewährt hat.

Anders sähe es aus, wenn die EZB in Zukunft mehr Inflation zuließe, also nicht gegensteuert, wenn die Inflation über 2% liegt. Dann müsste sie die Anleihen nicht verkaufen (oder ihre eigenen Anleihen ausgeben). In diesem Fall würde die höhere Inflation den realen Wert der Staatsschulden reduzieren, die nicht in der Bilanz der Zentralbank stehen und die in den letzten Jahren zu sehr niedrigen Zinsen ausgegeben wurden. Die Regierungen würden zunächst gewinnen, während die privaten Anleihegläubiger die höhere Inflation „bezahlen“ müssten. Die nominalen Zinssätze würden steigen, wodurch der Preis der langfristigen Staatsanleihen sinken würde, die diese Investoren zu negativen oder Null-Zinssätzen gekauft haben. Der inflationäre Überraschungsverlust würde in der Folge die staatliche Anleihefinanzierung erschweren und verteuern. Zudem könnten die Steuereinnahmen bei hoher Inflation infolge des sogenannten Tanzi-Effekts real sinken.

Finanzielle Repression

Wie sich Staaten mittels finanzieller Repression ihrer Schuldenlasten entledigen konnten, hat Carmen Reinhart mit Bélen Sbrancia in einer vielbeachteten Studie dargestellt. Finanzielle Repression reduziert, gleichsam einer Steuer auf Anleihegläubiger und Sparer durch negative oder unter dem Markt liegende Realzinsen, die Staatsschulden. Sie ist bei der Liquidierung von Schulden am erfolgreichsten, wenn sie von moderater Inflation begleitet wird.

Das Zins-Wachstums-Differential ist die Black Box der Schuldendynamik

Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen Kapitalverkehrskontrollen und regulatorische Beschränkungen Zwangsabnehmer für Staatsschulden und begrenzten die Erosion der Steuerbasis. Von 1945 bis 1980 waren die Zinsen in den fortgeschrittenen Ländern etwa in der Hälfte der Jahre negativ – die Sparer zahlten also drauf, wenn sie dem Staat Geld liehen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten liquidierten dadurch im Durchschnitt jährlich Schulden von 3 bis 4% des BIP. In Australien und Italien, wo die Inflation besonders hoch war, lagen die Liquidationsraten durchschnittlich höher als 5%. Die durchschnittlichen jährlichen Einsparungen bei den Zinsausgaben für eine Stichprobe von zwölf Ländern reichen von etwa 1 % bis 5 % des BIP für den gesamten Zeitraum 1945-80.

Der fiskalische Ertrag einer finanziellen Repression wird allerdings heute in der Eurozone geringer ausfallen als damals. Selbst Griechenland konnte noch vor einigen Wochen einen achtfach überzeichneten zehnjährigen Staatsbonds zu 0,8% an die Investoren verkaufen. Hinzu kommt, dass 80% der griechischen Staatsschulden bei öffentlichen Gläubigern wie dem Euro-Stabilitätsfonds ESM liegen. Im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms (PEPP) kauft die EZB auch griechische Staatsanleihen, trotz der Einstufung der Papiere als Non-Investment-Grade.

Austerität

Die Schlüsseldeterminante für die zukünftige Schuldenstabilität ist das Verhältnis von Zinsen zu Wachstum, konkreter gesagt die durchschnittlichen Kosten der Verschuldung abzüglich des Wachstums des nominalen BIP. Dieses Zins-Wachstums-Differential ist die Black Box der Schuldendynamik: Staaten, in denen das nominale BIP mit einer Rate wächst, die mit den durchschnittlichen Kosten der Verschuldung identisch ist, können die Verschuldung im Verhältnis zum BIP stabilisieren, indem sie einen ausgeglichenen Primärhaushalt führen. Staaten, deren BIP in nominaler Landeswährung schneller wächst als die durchschnittlichen Kosten der Verschuldung, können die Verschuldung stabilisieren, indem sie ein primäres Haushaltsdefizit aufweisen (die Größe dieses schuldenstabilisierenden Primärsaldos oder DSPB wird durch die Höhe der Verschuldung im Verhältnis zum BIP im Vorjahr und die Differenz von Zins und Wachstum bestimmt). Im Gegensatz dazu müssen Staaten, die mehr auf ihre Schulden zahlen als das nominale BIP wächst, Primärüberschüsse erzielen, um die Verschuldung im Verhältnis zum BIP zu stabilisieren.

Mithilfe einer historischen Datenbank zu den durchschnittlichen effektiven staatlichen Kreditkosten für 55 Länder über einen Zeitraum von bis zu 200 Jahren haben Paolo Mauro und Jing Zhou in einer IWF-Studie dokumentiert, dass negative Zins-Wachstums-Differentiale sowohl in fortgeschrittenen als auch in aufstrebenden Volkswirtschaften häufiger auftraten und oft über lange historische Zeiträume hinweg bestehen. In solchen Perioden erodiert die Schuldenquote mit vergleichsweise geringer Fiskaldisziplin.

Beim IWF darf man solch ein Resultat nicht einfach stehen lassen. Mauro und Zhou verweisen gleichzeitig auf den geringen Informationsgehalt von durchschnittlichen Zinskosten: Die Ausfallhistorie von Staaten zeige, dass nach längeren Perioden niedriger Differenzen auf Basis der durchschnittlichen effektiven Zinssätze die marginalen Kreditkosten plötzlich und stark ansteigen und Länder kurzfristig von den Finanzmärkten ausgeschlossen werden können.  Und selbst wenn die Zinssätze recht niedrig sind, bedeute dies nicht, dass es in dynamisch effizienten Ländern ein fiskalisches Free Lunch gibt, wie der bei „Fiskalfalken“ derzeit vielbeachtete Ricardo Reis argumentiert. Das Etikett „Dynamische Effizienz” trifft auf Deutschland allerdings nicht zu, da die Bundesrepublik zu Lasten heutiger Generationen zu viel spart und hohe Leistungsbilanzüberschüsse produziert.

Das Maastricht-Kriterium hat nach der Covid-Pandemie jegliche Glaubwürdigkeit und damit Bindung verloren

Die folgende Tabelle vermittelt einen Eindruck über den Umfang der Aufgabe: Die „Schuldenquotenstabile primäre Haushaltsposition“ (DSPB) gibt die Berechnungen der Ratingagentur S&P für den notwendigen Primärhaushalt der Länder wieder, um einen weiteren Anstieg der jeweiligen Schuldenquoten bis 2023 zu vermeiden.* In Belgien, Frankreich, Italien und Spanien müsste sich der Primärsaldo im Vergleich zum Negativsaldo des Jahres 2020 um mehr als 10 Prozentpunkte des BIP erhöhen, um so den Haushalt zu konsolidieren. Der zinsbereinigte Primärhaushalt wird vom Negativsaldo des Jahres 2020 spätestens nach dem Ende der Pandemie wieder runterkommen müssen. Das geht im Prinzip nur über Erhöhung der Steuererträge oder Ausgabenkürzungen, wobei eine Erhöhung der Steuersätze fiskalisch ebenso kontraproduktiv wirken kann wie Ausgabenkürzungen wachstumspolitisch schaden, auch wenn der Wiederaufbaufonds der EU, der erstmals über gemeinsame europäische Anleihen finanziert wird, einige Härten abfedern wird.

Das Manko solcher Berechnungen der Schuldendynamik ist unter anderem, dass eine höhere Schuldenquote einen geringeren Primärüberschuss erfordert; daher käme Griechenland laut S&P mit weniger Austerität hin. Die letzte Spalte zeigt daher meine Berechnungen, wieviel Jahre es bei den von S&P projizierten Zinsdifferenzen zum Wachstum brauchen würde, die Staatsschulden wieder unter das Maastricht-Kriterium von 60% zu zwängen. In einigen Fällen bräuchte es mehrere Generationen.

Parameter der Schuldendynamik in einigen EU-Staaten (2020)

LAND

SCHULDENQUOTE (IN % DES BIP)

PRIMÄR-HAUSHALT (IN % DES BIP)

DSPB* 2023

JAHRE BIS MAASTRICHT**

Griechenland

205.6

-7.1

-0.3

30

Italien

155.8

-7.6

6.2

96

Portugal

143.2

-4.2

0.9

32

Spanien

117.1

-9.9

6.5

22

Frankreich

113.9

-8.5

5.6

24

Belgien

113.8

-8.8

7.4

53

Median Eurozone

86.1

-6.7

4.6

13

Memo: Deutschland

66.6

-5.6

4.0

4

*Schuldenquotenstabile primäre Haushaltsposition (DSPB) bis 2023. R=(D/Y)/0.6. **„Jahre bis Maastricht“ berechnet aus J=-(ln R/(g-i,%)).

Quellen: eigene Berechnungen; S&P Global (2021), Sizing Sovereign Debt and the Great Fiscal Unwind

Wegen vieler Unsicherheiten sind präzise Zahlen hier weniger wichtig als die Botschaft: Das Maastricht-Kriterium hat nach der Covid-Pandemie aus meiner Sicht jegliche Glaubwürdigkeit und damit Bindung verloren.

Ewige Schulden

Unter anderem haben George Soros oder Guy Verhoefstadt jüngst die Ausgabe ewiger Anleihen, auch Konsols oder Perpetuals genannt, gefordert. Diese haben eine unendliche Laufzeit und zahlen einen jährlichen Kupon. Ihr Kapital wird nie zurückgezahlt. Das Hauptargument für die Ausgabe unbefristeter Anleihen ist, dass die EU das Niedrigzinsumfeld nutzen sollte, um niedrige Zinssätze durch Anleihen mit unendlicher Laufzeit zu sichern. Unbefristete Anleihen unterliegen auch keinem Refinanzierungsrisiko, da sie nie prolongiert werden müssen.

Wären ewige Anleihen eine kostengünstige Endlager-Lösung? Angesichts der heute sehr niedrigen Renditen mag es sich für Emittenten lohnen, sich langfristig zu günstigen Konditionen zu verschulden. Finanzmathematiker sind aber eher unbeeindruckt. Bei einer positiven Rendite ist eine ewige Anleihe eine vergleichsweise teure Finanzierungsquelle im Vergleich zur Ausgabe von zehnjährigen Anleihen, die derzeit zu Zinssätzen unter 0% gehandelt werden. Die Rendite ist der durchschnittliche Zinssatz über alle Kuponlaufzeiten, gewichtet mit dem Barwert jedes Zinskupons. Es ist aber schwierig, diese Berechnung für eine ewige Anleihe durchzuführen, da wir die Zinssätze nicht bis zur unendlichen Laufzeit beobachten können. Die Renditekurve der EZB hört bei 30 Jahren auf, weil es nur wenige Anleihen mit einer Laufzeit von mehr als 30 Jahren gibt.

Zinsertragskurve der Staatsanleihen des Eurosystems



Quelle: EZB

Die gut bewertete Republik Österreich (S&P-Rating: AA+) ist Vorreiter in Euroland für Staatsanleihen mit extrem langer Laufzeit. Sie hat im Jahr 2017 eine 100jährige Anleihe mit einem Kupon von 2,1% begeben und diese auf sechs Milliarden Euro im Jahr 2019 aufgestockt. Derzeit ist die Rendite knapp unter einem Prozent.  Die 51-jährige Anleihe mit einem Kupon von 0.5% des weniger gut bewerteten Frankreich (S&P: AA) rentiert derzeit ähnlich hoch. Die Frage ist vor allem, wer in solche Langläufer investieren will, wenn am langen Ende die Renditen steigen.

Es gibt keine eierlegende Wollmilchsau, sondern jedwede Variante wird Gewinner und Verlierer hervorbringen, ob das nun die Regierungen, ihre Steuerzahler oder Anleihegläubiger sind

Derzeit gibt es eine hohe Nachfrage nach diesen Anleihen mit ultralanger Laufzeit, ihre Monetisierung durch das Eurosystem ist also nicht notwendig. Warum? Institutionelle Investoren oder Stiftungsfonds verwenden Langläufer für gewöhnlich, um die Laufzeit ihrer Anleihenportfolios zu verlängern. Die Beimischung auf ihrer Aktivseite hilft ihnen, die Fälligkeitsstruktur ihrer Verpflichtungen (Passiva) zu reflektieren. Österreich gilt wie viele andere Industrieländer auch als risikoarm, so dass Anleger mit einer Investition in die 100jährige Anleihe zumindest eine langfristige positive Rendite erzielen – viele Staatsanleihen mit kürzerer Laufzeit in Europa weisen dagegen derzeit eine negative Rendite auf.  Anleihen mit ultralanger Dauer profitieren auch von „positiver Konvexität”: Wenn Investoren langlaufende Anleihen mit niedrigen Kupons (niedrigen Auszahlungen) besitzen, steigt ihr Kaufpreis stärker, wenn die Renditen fallen. Wenn die Renditen dagegen steigen, profitieren Investoren von einer impliziten Asymmetrie hochkonvexer Anleihen. Bei einer Anleihe mit hoher Konvexität fällt der Preis nämlich weniger, wenn die Renditen steigen, als er steigt, wenn die Renditen sinken.

Jede Variante hat Gewinner und Verlierer

Und die Moral von der Geschicht´? Die Vielzahl historischer Beispiele der Schuldenkonsolidierung informieren uns heute über verschiedene Optionen: mit und ohne Austerität, mit und ohne (faktischen) Schuldenschnitt, mit und ohne finanzielle Repression. Und natürlich sind auch Kombinationen verschiedener Varianten möglich, was es der Politik erlaubt, die Strategie der Konsolidierung oder Entsorgung hoher Pandemieschulden mit mehreren Instrumenten zu verfolgen.

Dabei sollte auch klar geworden sein: Es gibt keine eierlegende Wollmilchsau, sondern jedwede Variante wird Gewinner und Verlierer hervorbringen, ob das nun die Regierungen, ihre Steuerzahler oder Anleihegläubiger sind. Wer genau wann wie viel gewinnt oder verliert, muss letztlich im demokratischen Prozess entschieden werden. Denn die Auswahl und Gewichtung dieser Optionen obliegt weder Ökonomen noch Journalisten, sondern Parlamenten, Regierungen und deren Wählern, die möglichst gut über die Konsequenzen dieser Entscheidungen informiert werden sollten.

 

Zum Autor:

Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die Blogs ShiftingWealth und Weltneuvermessung. Auf Twitter: @HrReisen

 


Friday, 12 February 2021

Staatsschulden in Kriegszeiten

 


Staatsschulden in Kriegszeiten

Der Pandemieeinbruch von Beschäftigung und Output ist keine herkömmliche Rezession. Die erforderliche politische Reaktion sind keine üblichen Konjunkturmaßnahmen. Wir haben es stattdessen mit einer Naturkatastrophe statt einer normalen Rezession zu tun. Die angemessene politische Reaktion ist wie nach den Verheerungen großer Kriege Soforthilfe und dann Wiederaufbau[1]. Doch etliche Ökonomen hängen in ihrer Modellfalle, die Coronamassnahmen in herkömmlichen Konjunkturbegriffen zu bewerten.

Zwei prominente Ökonomen, Larry Summers und Olivier Blanchard, haben eine Kampagne gegen das 1,9 Billionen Dollar schwere Hilfspaket des neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden angezettelt[2]. Beide stützen sich dabei auf konventionelle Konjunkturkonzepte (Output-Lücke; nachfragebedingte Inflation). Beider Voten haben überrascht[3]. Gerald Braunberger, Herausgeber der FAZ, äußerte in einem Leitartikel: „Summers und Blanchard haben eine alte Weisheit verinnerlicht, die, wie die Reaktionen über das Wochenende zeigen, den zahlreichen Nachbetern, Nachtretern und verblendeten Ideologen unter den Ökonomen ihr Leben lang unverständlich bleibt: Man kann des Guten auch zu viel tun.“[4] Starker Tobak. Aber damit nicht genug: „Eine überdimensionierte Finanzpolitik kann, wenn die Leute nach der Pandemie wieder mehr Geld ausgeben, schnell zu höheren Teuerungsraten führen. Das gilt auch für Deutschland.“

Den Beitrag des einzigen Nobelpreisträgers zur aktuellen Stimulusdebatte wollte der FAZ-Herausgebern seiner Leserschaft wohl nicht zumuten. Paul Krugman hatte früh darauf hingewiesen, dass das Jahrhundert-Virus uns nicht eine herkömmliche – nachfragebedingte - Rezession – beschert hat. Stattdessen leiden wir unter einer Teilschließung, die das Ergebnis sowohl der öffentlichen Restriktionen als auch privater Entscheidungen ist. Aktivitäten mit hohem Infektionsrisiko wurden stark eingeschränkt. Eine Ankurbelung der Gesamtausgaben durch die Fiskal- und Geldpolitik würde die Gäste nicht zurück in die Restaurants locken. Bei der Pandemie und ihren Folgen auf Produktion und Beschäftigung handelt es sich also nicht um makroökonomische Nachfragedefizite, die durch Stimulierung geschlossen werden sollten.

Wir sind im Krieg mit dem Coronavirus. Macron sagte das, und es ist keine Übertreibung. Kriege sind destruktiv, Kriege sind disruptiv. In solchen Zeiten taugen weder makroökonomische Konzepte wie ´Outputlücken´ noch ´inflationsneutrale Arbeitslosenquote´. Der Output-Gap-versus-Stimulus-Rahmen trifft auf die aktuelle Krise wirklich nicht zu, und der Missbrauch dieses Rahmens kann schwer in die Irre führen.

Kriege, Krisen und Pandemien katapultieren traditionell die Staatsverschuldung in die Höhe. Der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg schufen schufen im 20. Jahrhundert neue Ansprüche an die öffentlichen Ausgaben. Zusammen trieben sie die Verschuldung der westlichen Industriestaaten auf etwa 140 Prozent des BIP im Jahr 1946, nach einem Tiefpunkt von gut 20 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Der historische Blick auf Staatsschulden im Laufe der Jahrhunderte[5] gibt Einblick in die sehr unterschiedlichen Folgen: in den schlimmsten Perioden Überschuldung, Bankenzusammenbrüche, Währungskrisen und Hyperinflation; in den besten dagegen Staatsbildung, Finanzmarktentwicklung sowie Ausbau ´harter´ und ´weicher´ Infrastruktur.  

Was den Ausgang hoher Staatsschulden beeinflusst, dazu bald mehr.

 



[1] Paul Krugman (2021), „Fighting Covid Is Like Fighting a War”, NYT, 7.2.2021.

[2] Winand von Petersdorff (2021), „Die Warnung der Progressiven an Präsident Biden“, FAZ, 7.2.2021.

[3] Summers hat den Begriff der säkularen Stagnation wiederbelebt, in der expansive Finanzpolitik ein dauerhaftes Abgleiten in eine Welt niedrigen Wachstums und tiefer Zinsen verhindern soll. Blanchard hatte parallel zu Summers Stagnationsthese die neue Rolle der Staatsverschuldung in einer Zeit niedriger Zinsen analysiert: Ein Zinsniveau unter der Wachstumsrate übersetzt sich in sinkende Schuldenquoten; Schulden heute sind nicht die Steuern von morgen. Das gilt besonders für den AAA-Schuldner Bundesrepublik Deutschland, der inflationsbereinigt negative Zinsen auf seine Anleihen zahlt.  Andererseits: Ohne staatliche Subventionen und Transfers würde der virusbedingte Einbruch der privaten Wirtschaft die Schuldenquoten infolge des geringeren BIP und Steuerausfällen weiter aufblähen.

[4] G. Braunberger, Spiel mit der Inflation, FAZ vom 7.2. 2021.

[5] Barry Eichengreen, et al. (2019), „Public Debt Through the Ages”, NBER Working Paper, #25494, 1.1.2019.

 

Thursday, 4 February 2021

Tunesien: Vom Arabischen Frühling in den Covid-Winter




 Mein Beitrag wurde am 03.02.2021 vom MakronomMagazin publiziert: 

https://makronom.de/tunesien-vom-arabischen-fruehling-in-den-covid-winter-38250

Zum zehnten Jahrestag der Arabellion lieferten sich in Tunesien junge Menschen Straßenschlachten mit der Polizei. Die Menschen sind wütend und enttäuscht über die desolate Lage des Landes. „Die an der Macht sind jetzt andere, das System ist geblieben“. „Was nützt mir Pressefreiheit, wenn ich keine Arbeit habe?“, wird geklagt.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Mittel für Tunesien im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht. Herzstück des deutschen Engagements ist die Reformpartnerschaft mit Tunesien im Rahmen des Marshallplans mit Afrika. Sie wurde 2017 als bilateraler Beitrag zur G20-Initiative Compact with Africa geschlossen. Laut BMZ ist Tunesien ein politischer Hoffnungsträger in Nordafrika und nach einer langen Phase der Diktatur auf dem Weg, sich friedlich in einen Rechtsstaat umzuwandeln. Trotz politischer und sozialer Spannungen gilt die demokratische Entwicklung im Land als vorbildhaft, so das BMZ auf der offiziellen Tunesien-Seite. Die Zivilgesellschaft ist nach dem Ende des Ben Ali-Regimes gestärkt worden. „Die Zivilgesellschaften in der arabischen Welt schauen mit einigem Neid auf Tunesien“, meint etwa Isabelle Werenfels, die Tunesien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Geehrt wurden der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2015. Kurz: Tunesien ist ein Geber-Darling und in den Augen vieler „Westler“ so etwas wie ein Musterbeispiel für eine gelungene demokratische Transformation.

Zwar loben neue Analysen Tunesiens vergleichsweise guten Social Contract, sein inklusives Entwicklungsmodell. Doch Zweifel sind erlaubt, ob dies die Tunesier vor Ort auch so sehen. Gewaltsame Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei, Plünderungen von Supermärkten und Hunderte von Verhaftungen prägen derzeit die tunesischen Provinzen und Städte. Nahost-Volkswirte wie etwa Ishac Diwan haben bereits vor einiger Zeit gewarnt, dass in Tunesien Einiges aus dem Ruder läuft. Auch vor der Covid-Pandemie laugten Vetternwirtschaft und illegale Untergrundaktivitäten das Wachstum der tunesischen Wirtschaft abseits des korruptionsanfälligen Bausektors aus, eine Folge der geschwächten staatlichen Kapazität zur Durchsetzung von Recht und Gesetz. Während die öffentlichen Investitionen bei 5% des BIP schwächelten, stieg im vergangenen Jahrzehnt die öffentliche Lohnsumme von 10 auf 15% des BIP. Auch vom Anstieg der Sozialausgaben profitierten vornehmlich Beamte, nicht das arme Hinterland. Der Gini-Koeffizient blieb hoch, bei 40%.

Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland

Besonders das nahe Italien spürt die unverminderte Migrationswelle aus Tunesien. In Tunesien wird die illegale Emigration nach Europa, typischerweise mit dem Boot, gemeinhin als Harqa (arabisch für das Verbrennen der Grenze) bezeichnet. Harqa ist eine Ausstiegsstrategie derjenigen, die zu Hause eine starke Marginalisierung erfahren. Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland. Laut Migrationdataportal lag Tunesiens Wanderungsverlust (Immigration – Emigration) zwischen 2011 und 2020 bei insgesamt 170.000 . Fast 7% der tunesischen Bevölkerung (knapp 12 Millionen) leben im Ausland. Die tunesische Diaspora stützte 2020 die notorisch defizitäre Leistungsbilanz mit privaten Rücküberweisungen in Höhe von 5% des Volkseinkommens (BSP).

Die Covid-Pandemie trifft Tunesien besonders schwer

Eine Vielzahl von Problemen plagt Tunesien auch nach dem Arabischen Frühling. Einige prominente Beispiele sind die Stagnation des landesweiten Lebensstandards, die allgegenwärtige Korruption und eine überaus hohe Arbeitslosenquote. Laut IWF hat sich seit dem Arabischen Frühling der Außenwert des Dinars zum Euro halbiert, auch die Devisenreserven sanken im letzten Jahrzehnt um die Hälfte.

Natürlich hat die Covid-Pandemie Tunesien besonders getroffen, da Beschäftigung und Deviseneinnahmen stark vom Tourismus abhängen. Aber laut OECD-Analyse haben sich die Direktinvestoren seit dem Arabischen Frühling stark zurückgehalten, sodass das Land sich zu wenig von der Abhängigkeit vom Tourismus durch neue Arbeitsplätze wegdiversifizieren konnte. Die formale Beschäftigung hat sich zu wenig entwickelt, um die Jugend einzubinden und ihr eine Perspektive zu geben. Die verhältnismäßig gute Ausbildung der jungen Tunesier impliziert auch Friktionen beim Arbeitsangebot: Welche Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung werden überhaupt angenommen? Saubere Büroberufe (nicht Jobs in der industriellen Fertigung) sind das Ziel der formell gut ausgebildeten Jugend.

Wohlfeile wirtschaftspolitische Ratschläge gehen den „Hinterbänklern“ aus Washington, Paris oder Berlin leicht von der Hand[9]. Man kennt sie bis zum Abwinken:

  • arbeitsintensive Industrien fördern, am besten durch attraktive Standortbedingungen für ausländische Direktinvestitionen;
  • Subventionen für fossile Energieträger kürzen oder streichen;
  • den Staatshaushalt konsolidieren durch Kürzung des öffentlichen Konsums.

Allerdings scheinen der fiskalische Spielraum der Regierung und die Geduld der Bevölkerung ausgereizt. Die Kürzung des öffentlichen Konsums, der zur Hälfte aus Beamtengehältern besteht, würde auch die Beamten gegen die Regierung aufbringen. Höhere Energiepreise treffen die Provinz und den ärmeren Teil der Bevölkerung. Die ausländischen Direktinvestoren ziehen trotz deutlich niedrigeren politischen Gouvernanz-Noten den Standort Ägypten vor, wo der Militärkomplex die Industriepolitik bestimmt und für die Sicherheit von Direktinvestitionen bürgt. Ist die junge Bevölkerung Tunesiens zu nah an Europa und zu gut ausgebildet, als das dort das asiatische Modell der Transformation durch arbeitsintensive Industrien wirklich eine Chance hätte? So jedenfalls hört man aus Expertenkreisen vor Ort.

Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv

Kein Zweifel: Im Prinzip verfügt Tunesien über Trümpfe, und ist recht gut in globale Wertschöpfungsketten eingebunden: seine geografische Lage an der Grenze zwischen Europa und Afrika, langjährige Investitionen in die Bildung, Spezialisierung auf Zukunftsnischen, darunter der Pharma- oder Informationstechnologiebereich. Tunesiens Attraktivität leidet jedoch unter

  • den zahlreichen, oft schwerfälligen Vorschriften und Verwaltungsverfahren,
  • den Vorschriften für ausländische Investitionen, die restriktiver sind als in Ägypten und Marokko, und
  • den Verzögerungen beim Grenzübertritt (Zoll und Transportlogistik), die oft länger sind als anderswo.
  • Einige Investoren beklagten auch eine Qualifikationslücke, obwohl 28% der Hochschulabsolventen arbeitslos sind.

Eine Bemerkung des Nahostexperten Stefano Torelli vom römischen Politikinstitut ISPI (Istituto per gli studi di politica internazionale) aus dem Jahre 2017 klingt heute als Mahnung, auch für das BMZ:

„Einer der Fehler der letzten Jahre war die Tendenz der EU, das Loblied auf die tunesische Demokratisierung zu singen. Zwar hat das Land ein gutes Maß an formaler Demokratie erreicht, aber es gibt noch viele kritische Probleme im Zusammenhang mit der Wirtschaft und der politischen Instabilität.”

Die Konsenspolitik vor dem Hintergrund steigender Polarisierung zwischen Islamisten und Laizisten hat die tunesische Politik blockiert. Im Nachhinein erwies sich die euphorische Geber-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) als kontraproduktiv. Diese Rhetorik hat in DAC-Kreisen lange Tradition, ohne irgendeine Besserung der armen Bevölkerung bei den Grundbedürfnissen zu bewirken. Hinreichend für nachhaltige Transformation ist sie nicht.  Die tunesische Regierung hatte bei Nachverhandlungen mit dem IWF und anderen multilateralen Kreditgebern die Oberhand, das wussten sie laut Diwan. Kreditbedingungen wurden oft gebrochen (vor allem in Bezug auf die Lohnkosten im öffentlichen Sektor), ohne dass dies Auswirkungen auf die Auszahlungen hatte. Andererseits: Statt warmer Worte hat die EU sich nicht in der Lage gesehen, handfeste Anreize für höhere Produktivität – etwa eine Beitrittsperspektive nach dem Muster EU-Osterweiterung  – anzubieten.

 

Zum Autor:

Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die Blogs ShiftingWealth und Weltneuvermessung. Auf Twitter: @HrReisen