´Frugal´ ist nicht reich, ´fragil´ nicht
arm:
Solidarität und Vermögen in der Eurogruppe
Die Eurogruppe erinnert an "Tonio Kröger", die
frühe Novelle Thomas Manns. Als Sohn eines hanseatischen Kaufmanns und einer
"südlichen" Mutter erbte Tonio Kröger Qualitäten von beiden Seiten
seiner Familie. Dabei durchlebte er widersprüchliche Empfindungen; er fühlte
sich dem Bürgertum aufgrund seiner künstlerischen Begabung überlegen, aber
beneidete dessen Vitalität. Dieser Konflikt prägt die Eurogruppe bis heute: Die
Finanzminister aus Ländern mit hanseatischen und habsburgischen Wurzeln
predigen Sparsamkeit, die Finanzminister aus dem (lateinischen) Süden sind
anfällig für Finanzkrisen nicht zuletzt aufgrund schwacher Staatsfinanzen.
Die hanse-habsburgischen Länder haben bisher die
Mutualisierung der Schulden (Eurobonds) aus verschiedenen Gründen verhindert,
z.B. aus Angst vor Trittbrettfahrern (durch asymmetrische Transfers, die aus
den Steuern des Nordens bezahlt werden) oder aus Angst vor den eigenen
Steuerzahlern. Brexit fügt einen weiteren Vorbehalt hinzu: Der Zusammenhalt der
EU könnte nicht nur durch ‚populistische´ Anti-Euro Stimmung aus dem Süden,
sondern auch durch schwindende Unterstützung der Wähler aus dem Norden (und
Osten) der Eurozone gefährdet werden. Der endemische Mangel der EU besteht bis
heute darin, dass eine solide europäische Öffentlichkeit kaum existiert. Die
Ausbreitung EU-freundlicher Denkfabriken kann dieses Manko nicht ausgleichen.
„Auch deshalb sind Auskünfte, die uns aus Brüssel erreichen, nur mit Vorsicht
zu genießen: je dünner die Legitimität, desto dicker der Glibber der PR“.[1]
Ende März 2020 sahen sich die Staats- und Regierungschefs
der EU mit einem Vorschlag konfrontiert, der von neun Regierungen der Eurozone
unterzeichnet wurde: der "Coronabond", ein neuartiger öffentlicher
Schuldtitel, der von allen 19 Mitgliedstaaten der Währungsunion unterstützt
werden sollte, wenn sie sich zur Bekämpfung der eskalierenden COVID-19-Krise
zusammenschließen. Der Eurobond-Antrag stieß jedoch auf Widerstand der "
Frugalen Vier " der Eurozone - Deutschland, die Niederlande, Österreich
und Finnland. Sie vermieden deren Aufnahme in das Notfall-Rettungspaket, das
mehr als eine halbe Billion Euro zur Verfügung stellen sollte, um die Auswirkungen
der europaweiten Coronavirus-Pandemie abzufedern. Die „Fragilen Zwei“ Italien
und Spanien, die vom Virus besonders schwer getroffen wurden, hätten vielleicht
davon am meisten profitiert. Sicher ist das nicht: Die Ausgabe neuer Eurobonds hätten zwar einen
niedrigen Zinskoupon, als Italien derzeit aufwenden muss, aber stattdessen könnten
sich die Zinskosten der bestehenden italienischen Staatsanleihen erhöhen.
Sicher, angesichts der menschlichen und wirtschaftlichen
Koronakatastrophe ist Solidarität zwischen den verschiedenen EU-Nationen
gefordert[2].
Aber es ist leicht, die immer wiederkehrenden Euro-Konflikte als Konflikt der
egoistischen Reichen gegen die verwundbaren Armen zu werten. Die Tabelle zeigt,
dass die Realität komplizierter ist. Sie basiert auf dem Global Wealth Report der Credit Suisse, der seit mehr als einem
Jahrzehnt die führende Referenz zum globalen Haushaltsvermögen darstellt.
Reichtum ist definiert als das Nettovermögen der Haushalte, das sich
zusammensetzt aus finanziellen Vermögenswerten (Bargeld, Einlagen, Aktien und
kapitalgedecktes Pensions- oder Versicherungsvermögen im Privatkunden- oder
institutionellen Bereich) plus nichtfinanzielle Vermögenswerte (Wohnraum,
Grundstücke und Kleinunternehmen) abzüglich Schulden (weitere Einzelheiten
siehe Davies, Lluberas und Shorrocks (2016)[3]
). Aber der Global Wealth Report der Credit Suisse erfasst keine Ansprüche aus
dem Umlageverfahren der Alterssicherung oder aus Beamtenpensionen.
Nettovermögen/Erwachsener
(USD), Ungleichheit und Besteuerung
Ausgewählte Länder der Eurozone
Länder
|
Vermögen/Erwachsener, 2019 Median,in Tsd.
|
Vermögen/Erwachsener, 2019 Mittelwert,in Tsd.
|
Ungleichheit
(Gini, %)
|
Erbschafts-Steuer,
% BIP
|
“Frugal”
|
||||
Deutschland
|
35,3
|
216,7
|
81,6
|
0,2
|
Niederlande
|
31,1
|
279,1
|
90,2
|
0,3
|
“Fragil”
|
||||
Italien
|
91,9
|
234,1
|
66,9
|
0,0
|
Spanien
|
95,4
|
207,5
|
69,4
|
0,2
|
Europa
|
24,7
|
154,0
|
82,4
|
n.a.
|
Quellen:
Credit Suisse (2019), Global Wealth Databook; Ifo-Institut (2018),
"Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung": Ein Überblick und
Ländervergleich", Ifo DICE-Bericht, 02/2018.Anmerkungen: Reichtum ist das
Nettovermögen der Haushalte, das sich aus finanziellen Vermögenswerten
(flüssige Mittel; Aktien; sonstige, einschließlich kapitalgedeckter Renten- und
Lebensversicherungsvermögen) plus nichtfinanzielle Vermögenswerte (Wohnraum,
Grundstücke und Kleinunternehmen) abzüglich Schulden zusammensetzt. Die
Erbschaftssteuer bezieht sich auf Einnahmen aus Steuern auf Erbschaft,
Vermächtnis und Schenkungen.
Zwei Punkte lassen sich aus der Tabelle ableiten:
- Erstens sollten sich die Begriffe "reich" und
"arm" auf Vermögensbestände und nicht auf jährliche Einkommensströme
beziehen. Die frugalen Anführer Deutschland und die Niederlande haben ein sehr
niedriges Medianvermögen/Erwachsenen,
nämlich etwa ein Drittel(!) des für Italien oder Spanien verzeichneten
Medianwertes. Folglich ist die übliche Diskussion über den "reichen"
Norden und den "armen" Süden irreführend.
- Zweitens ist die Vermögensungleichheit bei den sparsamen
Niederlanden und in Deutschland sehr hoch, was sich an der starken Abweichung
zwischen dem Median und dem mittleren Vermögens-/Erwachsenenniveau ablesen
lässt. Der Wohlstand der Haushalte scheint in den gefährdeten Ländern Italien
und Spanien gleichmäßiger verteilt zu sein. Dies wird durch die angezeigten
Gini-Koeffizienten bestätigt (das Maß von Corrado Gini reicht von 0 bis 100%,
wobei 0 für vollkommene Gleichheit und 100 für vollkommene Ungleichheit steht).
Da der durchschnittliche Reichtum/Erwachsene der "Frugalen" in etwa Italien
und Spanien entspricht, ist die übliche Rede vom "reichen" Norden
oder vom "armen" Süden selbst bei einem Vergleich des
durchschnittlichen Reichtums immer noch irreführend.
Ich ziehe zwei vorläufige Schlussfolgerungen, die in der
Eurobond-Debatte möglicherweise nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden haben.
Erstens könnten Deutschland und die Niederlande sehr wohl
knauserig bleiben, solange das Haushaltsvermögen innerhalb ihrer Länder nicht
gleichmäßiger verteilt ist; ein höheres durchschnittliches Haushaltsvermögen
könnte die politische Gegenreaktion durch die Mutualisierung öffentlicher
Verbindlichkeiten auf der Ebene der Eurozone verringern.
Zweitens gibt es in den gefährdeten Ländern auch Spielraum,
um ihre Wohlhabenden dazu zu bewegen, sich stärker an den Kosten von COVID-19
zu beteiligen. Eine Wiedereinführung dieser progressiven Steuern in Italien
könnte sich als notwendig erweisen, damit die lokalen Reichen zu den
außerordentlichen Kosten der Corona-Krise im Land beitragen können. Das
Aufkommen an Erbschafts-, Erbschafts- und Schenkungssteuern in % des BIP ist in
ganz Europa gering und in Italien gleich Null. Europa ist weltweit führend in
Bezug auf ererbten Reichtum: Die reichsten florentinischen Familien im Jahr
1427 sind es immer noch[4].
Natürlich sind die hier vorgebrachten Überlegungen nicht
dazu bestimmt, ein normatives Urteil über das Für und Wider von Eurobonds oder
Coronabonds zu fällen. talien und Spanien haben eine hohe Schuldenquote; neue
Darlehen wirken daher kontraproduktiv, da sie Ausfallrisiko und Zinsspreads
erhöhen. Transfers (auch in Form nicht gezahlter EU-Beiträge) helfen den
„fragilen“ Europäern daher rascher und angemessener.
[1] Hans
Magnus Enzensberger (2011), Sanftes
Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Edition Suhrkamp, Berlin.
[2] Wenn ein
hochverschuldetes Mitglied der Integrationsgemeinschaft ohne eigene
Verantworung in Not gerät, sollte es seine Mitgliedbeiträge aussetzen können.
Daniel Gros hat vorgerechnet, dass ein siebenjähriges Moratorium auf den
EU-Beitrag über 100 Milliarden Euro einsparen würde. Daniel Gros (2020), „EU solidarity in exceptional times:
Corona transfers instead of Coronabonds”, VoxEU, 5. April.
[3] Davies, J., R. Lluberas and A. Shorrocks
(2016), “Estimating the level and
distribution of global wealth, 2000-14”, WIDER
Working Paper, No. 2016/3, UNU-Wider, Helsinki.
[4] A. Speciale und C. Vasarri (2016),
“How to Stay Rich in Europe: Inherit
Money for 700 Years”,
Bloomberg, 26. August.
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