Monday, 20 April 2020

´Frugal´ ist nicht reich, ´fragil´ nicht arm



´Frugal´ ist nicht reich, ´fragil´ nicht arm:
Solidarität und Vermögen in der Eurogruppe

Die Eurogruppe erinnert an "Tonio Kröger", die frühe Novelle Thomas Manns. Als Sohn eines hanseatischen Kaufmanns und einer "südlichen" Mutter erbte Tonio Kröger Qualitäten von beiden Seiten seiner Familie. Dabei durchlebte er widersprüchliche Empfindungen; er fühlte sich dem Bürgertum aufgrund seiner künstlerischen Begabung überlegen, aber beneidete dessen Vitalität. Dieser Konflikt prägt die Eurogruppe bis heute: Die Finanzminister aus Ländern mit hanseatischen und habsburgischen Wurzeln predigen Sparsamkeit, die Finanzminister aus dem (lateinischen) Süden sind anfällig für Finanzkrisen nicht zuletzt aufgrund schwacher Staatsfinanzen.

Die hanse-habsburgischen Länder haben bisher die Mutualisierung der Schulden (Eurobonds) aus verschiedenen Gründen verhindert, z.B. aus Angst vor Trittbrettfahrern (durch asymmetrische Transfers, die aus den Steuern des Nordens bezahlt werden) oder aus Angst vor den eigenen Steuerzahlern. Brexit fügt einen weiteren Vorbehalt hinzu: Der Zusammenhalt der EU könnte nicht nur durch ‚populistische´ Anti-Euro Stimmung aus dem Süden, sondern auch durch schwindende Unterstützung der Wähler aus dem Norden (und Osten) der Eurozone gefährdet werden. Der endemische Mangel der EU besteht bis heute darin, dass eine solide europäische Öffentlichkeit kaum existiert. Die Ausbreitung EU-freundlicher Denkfabriken kann dieses Manko nicht ausgleichen. „Auch deshalb sind Auskünfte, die uns aus Brüssel erreichen, nur mit Vorsicht zu genießen: je dünner die Legitimität, desto dicker der Glibber der PR“.[1]

Ende März 2020 sahen sich die Staats- und Regierungschefs der EU mit einem Vorschlag konfrontiert, der von neun Regierungen der Eurozone unterzeichnet wurde: der "Coronabond", ein neuartiger öffentlicher Schuldtitel, der von allen 19 Mitgliedstaaten der Währungsunion unterstützt werden sollte, wenn sie sich zur Bekämpfung der eskalierenden COVID-19-Krise zusammenschließen. Der Eurobond-Antrag stieß jedoch auf Widerstand der " Frugalen Vier " der Eurozone - Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland. Sie vermieden deren Aufnahme in das Notfall-Rettungspaket, das mehr als eine halbe Billion Euro zur Verfügung stellen sollte, um die Auswirkungen der europaweiten Coronavirus-Pandemie abzufedern. Die „Fragilen Zwei“ Italien und Spanien, die vom Virus besonders schwer getroffen wurden, hätten vielleicht davon am meisten profitiert. Sicher ist das nicht: Die Ausgabe neuer Eurobonds hätten zwar einen niedrigen Zinskoupon, als Italien derzeit aufwenden muss, aber stattdessen könnten sich die Zinskosten der bestehenden italienischen Staatsanleihen erhöhen.

Sicher, angesichts der menschlichen und wirtschaftlichen Koronakatastrophe ist Solidarität zwischen den verschiedenen EU-Nationen gefordert[2]. Aber es ist leicht, die immer wiederkehrenden Euro-Konflikte als Konflikt der egoistischen Reichen gegen die verwundbaren Armen zu werten. Die Tabelle zeigt, dass die Realität komplizierter ist. Sie basiert auf dem Global Wealth Report der Credit Suisse, der seit mehr als einem Jahrzehnt die führende Referenz zum globalen Haushaltsvermögen darstellt. Reichtum ist definiert als das Nettovermögen der Haushalte, das sich zusammensetzt aus finanziellen Vermögenswerten (Bargeld, Einlagen, Aktien und kapitalgedecktes Pensions- oder Versicherungsvermögen im Privatkunden- oder institutionellen Bereich) plus nichtfinanzielle Vermögenswerte (Wohnraum, Grundstücke und Kleinunternehmen) abzüglich Schulden (weitere Einzelheiten siehe Davies, Lluberas und Shorrocks (2016)[3] ). Aber der Global Wealth Report der Credit Suisse erfasst keine Ansprüche aus dem Umlageverfahren der Alterssicherung oder aus Beamtenpensionen.

Nettovermögen/Erwachsener (USD), Ungleichheit und Besteuerung
Ausgewählte Länder der Eurozone
Länder
Vermögen/Erwachsener, 2019 Median,in Tsd.
Vermögen/Erwachsener, 2019 Mittelwert,in Tsd.
Ungleichheit (Gini, %)
Erbschafts-Steuer,
% BIP
“Frugal”




Deutschland
35,3
216,7
81,6
0,2
Niederlande
31,1
279,1
90,2
0,3
“Fragil”




Italien
91,9
234,1
66,9
0,0
Spanien
95,4
207,5
69,4
0,2
Europa
24,7
154,0
82,4
n.a.
Quellen: Credit Suisse (2019), Global Wealth Databook; Ifo-Institut (2018), "Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung": Ein Überblick und Ländervergleich", Ifo DICE-Bericht, 02/2018.Anmerkungen: Reichtum ist das Nettovermögen der Haushalte, das sich aus finanziellen Vermögenswerten (flüssige Mittel; Aktien; sonstige, einschließlich kapitalgedeckter Renten- und Lebensversicherungsvermögen) plus nichtfinanzielle Vermögenswerte (Wohnraum, Grundstücke und Kleinunternehmen) abzüglich Schulden zusammensetzt. Die Erbschaftssteuer bezieht sich auf Einnahmen aus Steuern auf Erbschaft, Vermächtnis und Schenkungen.

Zwei Punkte lassen sich aus der Tabelle ableiten:

- Erstens sollten sich die Begriffe "reich" und "arm" auf Vermögensbestände und nicht auf jährliche Einkommensströme beziehen. Die frugalen Anführer Deutschland und die Niederlande haben ein sehr niedriges Medianvermögen/Erwachsenen, nämlich etwa ein Drittel(!) des für Italien oder Spanien verzeichneten Medianwertes. Folglich ist die übliche Diskussion über den "reichen" Norden und den "armen" Süden irreführend.

- Zweitens ist die Vermögensungleichheit bei den sparsamen Niederlanden und in Deutschland sehr hoch, was sich an der starken Abweichung zwischen dem Median und dem mittleren Vermögens-/Erwachsenenniveau ablesen lässt. Der Wohlstand der Haushalte scheint in den gefährdeten Ländern Italien und Spanien gleichmäßiger verteilt zu sein. Dies wird durch die angezeigten Gini-Koeffizienten bestätigt (das Maß von Corrado Gini reicht von 0 bis 100%, wobei 0 für vollkommene Gleichheit und 100 für vollkommene Ungleichheit steht). Da der durchschnittliche Reichtum/Erwachsene der "Frugalen" in etwa Italien und Spanien entspricht, ist die übliche Rede vom "reichen" Norden oder vom "armen" Süden selbst bei einem Vergleich des durchschnittlichen Reichtums immer noch irreführend.

Ich ziehe zwei vorläufige Schlussfolgerungen, die in der Eurobond-Debatte möglicherweise nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden haben.

Erstens könnten Deutschland und die Niederlande sehr wohl knauserig bleiben, solange das Haushaltsvermögen innerhalb ihrer Länder nicht gleichmäßiger verteilt ist; ein höheres durchschnittliches Haushaltsvermögen könnte die politische Gegenreaktion durch die Mutualisierung öffentlicher Verbindlichkeiten auf der Ebene der Eurozone verringern.

Zweitens gibt es in den gefährdeten Ländern auch Spielraum, um ihre Wohlhabenden dazu zu bewegen, sich stärker an den Kosten von COVID-19 zu beteiligen. Eine Wiedereinführung dieser progressiven Steuern in Italien könnte sich als notwendig erweisen, damit die lokalen Reichen zu den außerordentlichen Kosten der Corona-Krise im Land beitragen können. Das Aufkommen an Erbschafts-, Erbschafts- und Schenkungssteuern in % des BIP ist in ganz Europa gering und in Italien gleich Null. Europa ist weltweit führend in Bezug auf ererbten Reichtum: Die reichsten florentinischen Familien im Jahr 1427 sind es immer noch[4].

Natürlich sind die hier vorgebrachten Überlegungen nicht dazu bestimmt, ein normatives Urteil über das Für und Wider von Eurobonds oder Coronabonds zu fällen. talien und Spanien haben eine hohe Schuldenquote; neue Darlehen wirken daher kontraproduktiv, da sie Ausfallrisiko und Zinsspreads erhöhen. Transfers (auch in Form nicht gezahlter EU-Beiträge) helfen den „fragilen“ Europäern daher rascher und angemessener.




[1] Hans Magnus Enzensberger (2011), Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Edition Suhrkamp, Berlin.
[2] Wenn ein hochverschuldetes Mitglied der Integrationsgemeinschaft ohne eigene Verantworung in Not gerät, sollte es seine Mitgliedbeiträge aussetzen können. Daniel Gros hat vorgerechnet, dass ein siebenjähriges Moratorium auf den EU-Beitrag über 100 Milliarden Euro einsparen würde. Daniel Gros (2020), „EU solidarity in exceptional times: Corona transfers instead of Coronabonds”, VoxEU, 5. April. 
[3] Davies, J., R. Lluberas and A. Shorrocks (2016), “Estimating the level and distribution of global wealth, 2000-14”, WIDER Working Paper, No. 2016/3, UNU-Wider, Helsinki. 
[4] A. Speciale und C. Vasarri (2016), “How to Stay Rich in Europe: Inherit Money for 700 Years”, Bloomberg, 26. August.



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